Sonstiges

Stilisierte Orthodoxie (Nikolai Berdjajew)

Es fehlt die Freiheit und Leichtigkeit des Philosophen

Nachfolgend eine sehr kritische Rezension zu „Säule und Sockel der Wahrheit“ aus dem Jahr der Erstveröffentlichung – ein Text des russischen [ukrainischen!] Philosophen Nikolai Berdjajew, der als „Erneuerer“ irgendwo zwischen Marxismus und religiösem Individualismus unterwegs und daher nachvollziehbar tief enttäuscht war, dass der orthodoxe Florenski vor dem Dogma der Dreieinheit Gottes freiwillig die Knie beugt: „Es fehlt die Freiheit und Leichtigkeit des Philosophen.“ Nun – hier stehen sich die Philosophie mit ihrem Unwillen zur Festlegung und die Theologie mit ihrem „festen Glauben“ lesenswert gegenüber.


Hier als PDF

Nikolai Berdjajew
Stilisierte Orthodoxie (Vater Pawel Florenski)

(1914)

„Säule und Sockel der Wahrheit. Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen“ des Priesters Pawel Florenski ist ein in dieser Form einzigartiges Buch, es ist anregend und verführerisch.

Bislang kennt die russische theologische Literatur kein so subtiles, auserlesenes Werk. Es ist dies die erste Blüte eines Ästhetizismus auf der Grundlage der Orthodoxie, und erst die feinfühlige ästhetische Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts machte sie möglich. Jedes Wort des Priesters Florenski ist geprägt von durchlebter ästhetischer Dekadenz.

(Es ist ein Herbst-Buch, das Rascheln abgefallener Blätter klingt darin wider.)

Die auserlesenen Blüten der Orthodoxie Florenskis sind nur in einer Zeit möglich geworden, in der im Katholizismus ein Huysmans möglich wurde. Leider muss festgestellt werden, dass der Ästhetizismus bei Priester Florenski nicht immer von gutem Geschmack begleitet ist. An manchen Stellen ist die geistliche Rhetorik der Sprache dieses Buches geschmacklos, etwa „ich habe mir lediglich ein kleines Lichtlein, eine dünne gelbe Wachskerze für einige Kopeken angezündet“, „eine Flamme, die in ungeübten Händen zittert“, „wie der duftende Tau auf dem Vlies, wie himmlisches Manna trat hier die gnadenerfüllte Kraft der gotterleuchteten Seele hervor“, „entflammt von Millionen und Abermillionen  gleißender, funkelnder, freudig-verspielter Blicke, die sich in Myriaden leuchtender Funkenspritzer ausgießen, versetzen die Schätze der Kirche meine arme Seele in ehrfurchtsvolles Schaudern“ usw. Egal wie fern der Priester Florenski von Natur aus der „geistlichen“ Welt steht, trägt sein Schreibstil doch den unauslöschlichen Stempel geistlicher Beredsamkeit.

Bei Priester Florenski gibt es nichts Naives und Unmittelbares. Wie naiv und spontan war doch die Orthodoxie der Slawophilen im Vergleich zur Orthodoxie des Priesters Florenski. In „Säule und Sockel der Wahrheit“ gibt es nichts Einfaches, Unmittelbares, kein einziges Wort, das direkt aus der Tiefe der Seele kommt. Solche Bücher können nicht religiös wirken. Dieses exquisite Buch, so klug, so gelehrt, ist frei von jeglicher Inspiration. Der Priester Florenski kann kein einziges Wort laut, kräftig und inspiriert sagen. Allzu sehr spürt man seine Auseinandersetzung mit sich selbst, seine offenen Rechnungen mit sich selbst, die Flucht vor sich selbst, die Angst vor sich selbst. Immer scheint es, als sei Florenski von distanzierter Dekadenz und rufe daher nach alltäglicher Einfachheit und Natürlichkeit, als sei er ein spiritueller Aristokrat und fordere daher kirchliche Demokratismus, als sei er voller sündigem Hang zu Gnostizismus und Okkultismus und daher ein solch unversöhnlicher Verfolger jedes Gnostizismus und Okkultismus. Man könnte meinen, er würde, sobald er sich ein wenig Freiheit gönnt, sofort eine unübersehbare Zahl von Häresien gebären und Chaos offenbaren. Künstlichkeit und Kunst sind in allem zu spüren. Solche Menschen sollten nicht predigen.

Der Priester Pawel Florenski ist ein brillanter, begabter, außerordentlich intelligenter und außerordentlich gelehrter Stilisierer der Orthodoxie – es gibt bei ihm keinen einzigen Gedanken, kein einziges Wort, das nicht stilisiert worden wäre. Seine Orthodoxie ist nicht lebendig, nicht unmittelbar, sondern stilisiert, nicht naiv, sondern sentimental (im Sinne Schillers). Es ist eine Orthodoxie komplexer und raffinierter ästhetischer Reflexionen, nicht eines unmittelbaren, kreativen Lebens, ist Orthodoxie einer Zeit des Niedergangs, nicht einer Blütezeit.

Der ganze Geist des Buches von Priester Florenski atmet stilisierten Archaismus, stilisierten Primitivismus. Im 20. Jahrhundert kann es aber nichts Archaisches und Primitives mehr geben, und die Stilisierung erreicht hohe künstlerische Stufen.

Priester Florenski ist ein Alexandriner, im Geiste nicht dem archaischen Griechenland, sondern der späthellenistischen Welt nahe. Ich erlaube mir kein Urteil zur Aufrichtigkeit und Tiefe des religiösen Lebens von Florenski, ich halte auch eine Diskussion darüber für unmöglich. Ich bezweifle nicht die Authentizität und Bedeutung der religiösen Erfahrungen des Autors von „Säule und Sockel der Wahrheit“, aber diese Erfahrungen in Form einer archaischen Orthodoxie zu offenbaren, ist Stilisierung. Als Philosoph und Theologe, als Schriftsteller und Prediger ist er ein Stilisierer der archaischen Orthodoxie, ist er dekadent. In dieser begnadeten, auserlesenen, subtilen Dekadenz liegt die Illusion und Verführungskraft des Buches. Aber die stilisierte Einfachheit, stilisierte Stille, stilisierte Demut strahlt schreckliche Leblosigkeit aus, einen großen und feinfühligen Geist, tiefe und auserlesene Gelehrtheit und zugleich kreative Impotenz. Statt lebendiger Gewächse pflanzt Priester Florenski hier viele, viele Kunstblumen. Wie schmerzhaft ist diese bedrückende Wiederherstellung des archaischen Stils der Orthodoxie. Zu sehr ist die dekadente Losgerissenheit von der archaischen orthodoxen Lebensweise spürbar, und zugleich damit die Stilisierung dieser archaischen Lebensweise.

Priester Florenski schreibt feinsinnig und klug über die Liebe, vermittelt aber keinerlei Liebe unmittelbar. In seinem Buch gibt es sehr viel traditionelle orthodoxe Menschen- und Weltfeindlichkeit, jedoch in Form einer stilisierten, ästhetischen Empörung gegen häretisches Leben und häretisches Denken. In seinen Worten liegt keine lebhafte, heiße Empörung. Sie vermitteln eine dekadente, ästhetische Gleichgültigkeit gegenüber Bösem und Gutem. Es gibt keine einzige Zeile in seinem Buch, die lebendige, heiße, echte Empörung gegen das Böse der Welt atmen würde, kämpferische Entlarvung des Bösen wäre, Widerstand gegen das Böse, gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. In den Schriften von Priester Florenski fehlt vollständig jeder Weltbürgersinn (nicht im politischen, sondern in einem viel tieferen Sinne). Er ist metaphysisch asozial. Mit solch stilisierter Stille und Demut kann man wohl überall Häresien entlarven, alles verfluchen und missbilligen, was nicht „Eigenes“ ist, nicht jedoch das Böse leidenschaftlich bloßstellen, sich über das Böse des Lebens empören und es bekämpfen.

Priester Florenski ist konsequent in seiner Abneigung des heroischen Prinzips, er wahrt den Stil, idealisiert den Alltag, das alltägliche Leben als echter, gottgefälliger. Das Heroische ist für ihn nur Effekthascherei und Darstellerei. Das Heroische ist für ihn nicht ontologischer Natur, er sieht im Heroischen keinen Weg aus „dieser Welt“ in ein anderes, höheres, wahrhaft geistliches Leben. Die Verleugnung des heroischen Lebens und das ästhetische Berauschen am Alltag, am Provinzialismus des Lebens, an der Stille des Alltags ist sehr stilgerecht für die archaische Orthodoxie des Priesters Florenski. Es ist vollkommen rückwärtsgewandt. Doch wie sehr er sich auch um die Eigenstilisierung als von einfacher Natur bemüht – man findet bei ihm weniger Einfachheit als bei irgendeinem der Gnostiker, bei Jacob Böhme zum Beispiel, der eine große Einfachheit und Unmittelbarkeit des Herzens besaß. Im demütigen Bestreben von Priester Florenski, nicht „seine“ Ansichten und nicht „sein“ System darzulegen, sondern die Ansichten und das System der Kirche, schwingt ein besonderer Stolz, eine besondere Kompliziertheit mit.

„Wenn es hier in meiner Arbeit irgendwelche ‚eigenen‘ Ansichten gibt, dann nur aus Undurchdachtheit, Unwissenheit oder Unverständnis“ (S. 360).

Priester Florenski entwickelt sehr interessante Ansichten zur Überwindung des Skeptizismus, zur Antinomie der Wahrheit, zur Gehenna, zu Sophia – in diesen Ansichten steckt viel von ihm, viel Originelles, und es wäre viel demütiger, wenn er auch auf diese Ansichten stolz wäre, als dass er sie mit stilisierter Demut als „undurchdacht“ und „unverstanden“ bezeichnet oder sie als Stimme der Kirche selbst ausgibt. Wenn er aber aufrichtig, nicht allein der stilisierten Demut zuliebe all seine Ansichten nur für „undurchdacht“, „unverstanden“ und „unwissend“ hielte, dann hätte es keinen Grund gegeben, zu philosophieren und zu theosophieren, keinen Sinn gemacht, den „Versuch einer orthodoxen Theodizee“ zu verfassen. Jede Philosophie und jede Theosophie ist wesentlich anthropologisch, stets gibt es eine Offenbarung der Weisheit im und durch den Menschen. Ein Philosoph ist immer (im wörtlichen Sinne) ein Häretiker, das heißt ein frei Auswählender. Die Person in sich selbst zu verunglimpfen, das eigene Denken, das eigene Verständnis und das eigene Wissen, um den demütigen Stil zu wahren, kann Erniedrigung aus Stolz sein. Priester Florenski legt uns seinen „Versuch einer orthodoxen Theodizee“ vor, von ihm ersonnen, auf seine Weise begründet, und es gibt keinen Grund, dass er von seinem Schaffen als „undurchdacht“ und „unverstanden“ spricht. Das verletzt die Würde der Person. Einige der „eigenen“ Ansichten des Priesters Florenski könnte man nahezu als genial anerkennen, wären sie nur nicht so stilisiert. Solche Stilisierung kann wohl sehr talentiert sein, aber nicht genial. Alles Geniale ist geradlinig und einfach, selbst wenn es für die Mehrheit unverständlich sein mag. Brillante Einfachheit gab es in Chomjakows Vorstellungen von der Kirche; der Priester Florenski ist davon weit weg.

Er hat in sich den bemerkenswerten Wissenschaftler, Mathematiker, Philologen, vielleicht auch Erforscher der okkulten Lehren unterdrückt. Er konzentriert sich mehr auf das Detail als auf das Universelle. Er liebt die feine, künstlerische, filigrane Arbeit, die detaillierte Recherche, die wissenschaftliche Miniatur. Er ist Juwelier. Die schöpferische Synthese ist bei ihm schwächer ausgeprägt. Er hat Tiefe, aber keinen Höhenflug, keine Weite. Der Wissenschaftler im besten Sinne des Wortes und der eigentümliche Künstler und Stilistiker überwiegen in ihm den Denker und Philosophen. Er kokettiert mit seinen juwelierhaften philologischen Untersuchungen. Er schreibt eher Literatur als Philosophie. Wie in der Malerei das Literarische für jemanden, der liebevoll nach bildhaften Offenbarungen sucht, störend sein muss, so ist es auch in der Philosophie unangenehm für jemanden, der liebevoll nach philosophischen Offenbarungen sucht. Priester Florenski ist immer noch ein Scholastiker, wenn auch in einem subtileren, nicht-seminaristischen Sinne des Wortes. Es fehlt die Freiheit und Leichtigkeit des Philosophen.

Seine „orthodoxe Theodizee“ ist Selbsterlösung, ist ein sich selbst und anderen auferlegter Zaum, nicht eine freie Suche nach Wahrheit und göttlicher Weisheit. Es gibt keine Freiheit in seinen Wegen der Erkenntnis. Was in Florenskis Schrift am meisten schmerzt und abstößt, ist seine Abneigung gegen die Freiheit, seine Gleichgültigkeit gegenüber der Freiheit, sein mangelndes Verständnis für die christliche Freiheit, die Freiheit im [Heiligen] Geiste. Selbst das Wort Freiheit wird nirgendwo verwendet. In diesem Punkt, in Bezug auf die Freiheit des menschlichen Geistes, gibt es bei Priester Florenski wahrhaft „Undurchdachtheit“, „Unverständnis“ und „Unwissen“. Seine Religion ist keine Religion der Freiheit, das Pathos der Freiheit ist ihm fremd. Dies drückt dem gesamten Buch seinen Stempel auf. „Säule und Sockel der Wahrheit“ ist ein Buch voll stickiger Treibhausatmosphäre. In einer solchen, schwülen Atmosphäre einer Katakombenkirche mit niedrigen Gewölben, geschwängert vom Wachskerzen- und Weihrauchduft, kann man leicht ersticken. Wenn man dieses erstickende Buch liest, möchte man an die frische Luft fliehen, in die Weite, die Freiheit, die Kreativität des freien menschlichen Geistes.

In gewisser Hinsicht ist Priester Florenski mit Pascal verwandt. Diese Verwandtschaft macht ihn zu einem interessanten Phänomen. Das Kapitel über den Zweifel ist das brillanteste und bemerkenswerteste in seinem Buch. Die erkenntnistheoretische Beschreibung der Qualen des Skeptizismus, die er έποχή nennt, ist sehr stark und ähnelt der Beschreibung der höllischen Qualen, dem Beginn der Hölle auf Erden. Nur ein Mensch, der die höllischen Qualen der έποχή erlebt hat, kann so schreiben, einer, für den die Überwindung der Skepsis die dringendste und lebenswichtigste Aufgabe ist. Er schreibt gut und stark über diese Qualen, die Stilisierung tritt hier am meisten zurück, denn hier enthüllt sich seine skeptische, Pascal ähnliche Natur.

Die erkenntnistheoretische Transkription der psychologischen Erfahrung des Zweifels ist allerdings nicht so allgemeinverbindlich, wie es Priester Florenski scheinen mag. Nicht jeder ist so sensibel für die Gefangenschaft der Vernunft, die zu den Qualen der έποχή führt. Ich glaube nicht einmal, dass in unserer Zeit die Qualen des Zweifels so akut sind. In unserer religiösen Suche sind wir sehr frei von Vernunft und έποχή, von der Verzögerung durch den Zweifel. Die Analyse des Zweifels bei Priester Florenski ist eher brillante Psychologie als Erkenntnistheorie. Es ist eine wunderbare Übung in Religionspsychologie.

Im Weiteren geht bei ihm die Psychologie in Theologie über, und diese Theologie ist nicht frei von überaus handfester Scholastik. Er überwindet die Qualen des Zweifels mit der Trinität, der dreieinen Wahrheit, er überwindet die Psychologie mit der Theologie. Nach Priester Florenski führt jeder immanente Erkenntnisweg, ob diskursiv oder intuitiv, gleichermaßen in die Hölle. Er verurteilt jeden zu höllischen Qualen, der dem Pfad der Erkenntnis folgt, ohne dabei die transzendente Dreieinheit anzunehmen.

„Sie (die Dreiheit) ist der letzte Ausweg. Wenn sich die dreieinige Wahrheit selbst nicht erweist, wo soll man sie dann suchen?“ (S. 69).

Er postuliert die dreieine Wahrheit als einzigen Ausweg aus der Höllenqual, er nimmt den dreieinen Gott aus Verzweiflung an. Wie abwegig es auch klingen mag – die Methode von Priester Florenski erinnert an Kants moralisches Gottespostulat, das ihm doch so fremd ist.

Er akzeptiert die Hypothese der dreieinen Wahrheit und des dreieinen Gottes, die transzendent zum eigentlichen Wissen und zur eigentlichen geistlichen Erfahrung ist, um sich vor der höllischen Verzweiflung zu retten. Er erkennt nicht, er errettet sich.

Er lässt die Trinitätshypothese zu, und nur durch diese transzendentale Annahme erweist es sich als möglich, den immanenten Qualen der έποχή zu entfliehen. Aber die dreieine Wahrheit und der dreieine Gott offenbaren sich nicht im immanenten geistlichen Leben. Die Göttliche Wahrheit ist vollkommen transzendent zur geistlichen Erfahrung. Dies bestimmt, wie wir sehen werden, die Haltung des Priesters Florenski zur Mystik. Er postuliert das Trinitätsdogma als außerhalb der mystischen Erfahrung, als sich nicht in ihr immanent offenbarend, nicht als inneres Licht und Erleuchtung, sondern als transzendente Heilshypothese. Somit bekräftigt er, nun schon erkenntnistheoretisch, die äußere, aller geistlichen, mystischen Erfahrung transzendente Natur der göttlichen Offenbarung. In der erkenntnistheoretischen Sprache von Priester Florenski muss es so verstanden werden, dass es unmöglich ist, das Licht, die Wahrheit immanent zu erlangen, dass jeder immanente, innere Erkenntnisweg, auch im Übergang zu mystischer Erfahrung und höherem geistlichen Leben, in die Hölle, in das verzehrende Feuer der έποχή führt.

Wenn Priester Florenski sagen wollte, dass das Licht der Wahrheit (nicht der Wahrheiten) durch Opfer, Selbstverleugnung, Kreuzigung der Rationalität erlangt wird, dann hätte er unbestreitbar Recht. Die ultimative Wahrheit wird durch Den offenbart, Der zu Sich Selbst sagte: „Ich bin die Wahrheit.“ Um diese Wahrheit zu sehen, musst man Ihm alles abgeben, Ihm alles zu Füßen legen, um alles von Ihm zu empfangen, muss sich für Ihn – die Wahrheit – von allen Wahrheiten lossagen. Aber dies ist der immanente Weg des geistlichen, mystischen Lebens, der Weg der Geburt Christi in der Seele.

Priester Florenski sagt etwas anderes. Er will nicht den opfernden Transzensus als Moment religiöser Erfahrung, als Geburt in ein neues geistliches Leben, sondern er will eine absolut transzendente äußere Offenbarung, er will eine Transkription der religiösen Erfahrung in den Begrifflichkeiten einer transzendenten Ontologie. Im mystischen Leben gibt es einen Durchgang durch den freiwilligen Tod, ein Erlösungsopfer, Golgatha, aber dies ist eine immanente Erfahrung, die nichts ganz Äußeres, [Transzendentes] für sich weiß. Die dreieine Wahrheit und der dreieine Gott des Priesters Florenski sind völlig [transzendent,] außerhalb. Dies stärkt die eigennützige Psychologie der religiösen Minderjährigkeit. Die Methode, nach der Priester Florenski beweisen möchte, dass die Wahrheit die Dreieinheit ist, entpuppt sich fatalerweise als scholastisch. Die feinfühlige Religionspsychologie geht bei ihm in eine scholastische Theologie über, und das Trinitätsdogma erweist sich, weil äußerlich, weil zur mystischen Erfahrung transzendent, unausweichlich als theologisch. Die Theologie beruht immer auf der Idee der äußeren Offenbarung und (unterscheidet sich) [ist entgegengesetzt] zur Mystik, die auf der Idee der inneren Offenbarung beruht. Theologie ist Transzendenz, Mystik ist (in einem tieferen Sinne) Immanentismus. Florenski ist keineswegs so frei von theologischer Scholastik, wie er es gerne wäre und hätte sein sollen. Er führt lediglich eine neugewandete Scholastik durch die Hintertür ein. Dies ist die unvermeidliche Strafe für jedes Postulat eines Dogmas, sowohl vor als auch außerhalb des geistlichen Lebens der mystischen Erfahrung.

Priester Florenski als feinfühliger Mensch zielt auf eine Erfahrungstheologie. Aber Erfahrungstheologie kann nicht ein äußeres Dogma und eine über dem menschlichen Geist transzendente Offenbarung postulieren; sie sieht die Geburt Gottes im Menschen und ist nicht mehr Theologie, sondern Theosophie. [Theologie war immer Ausdruck der religiösen Unreife, des Autoritarismus, der äußeren Transzendenz im religiösen Bewusstsein.] Priester Florenskis Dogma von der dreieinen Wahrheit und dem dreieinen Gott ist sowohl in Bezug auf die Erfahrung des Wissens als auch in Bezug auf die Erfahrung der Liebe äußerlich transzendent, da sowohl Wissen als auch Liebe erst nach Annahme dieses Dogmas möglich sind. Aber wenn man sich in der Annahme des Dogmas vollständig von jeglichem Autoritarismus befreit, dann wird das Dogma sich nur als Transkription der inneren religiösen Erfahrung erweisen, des inneren Weges der Liebe und des Wissens, des Durchgangs durch die Opferung der Vernunft und der Selbstverleugnung, als Beschreibung mystischer Begegnungen.

Es sei auch darauf hingewiesen, dass die erkenntnistheoretische Lehre des Priesters Florenski von der Wahrheit als Dreieinheit große erkenntnistheoretische Schwierigkeiten aufwirft. Tatsächlich wird die έποχή nicht nur in der Dreieinheit überwunden.  Wesentlich erfolgt die Überwindung der έποχή stets durch einen Akt des auswählenden, sezierenden Willens, durch den kognitiven Eros. Dieser kognitive Wille zur Wahrheit hat viele große Philosophen das Licht suchen lassen, ohne dabei unumwunden die Dreieinheit zu akzeptieren. Hier ist Priester Florenski dazu verdammt, dem empirischen Weg der Erkenntnis die Trinität [scholastisch] aufzuzwingen. Die scholastische Erkenntnistheorie hat sich, obwohl sie von der lebendigen Erfahrung ausging, verhängnisvoll auf das Verhältnis von Priester Florenski auf Kirche und Mystik ausgewirkt.

Er stilisiert sich sorgfältig im Modus des [rein semitischen] Fanatismus. Kirchlicher Fanatismus war immer eine Manifestation des semitischen Geistes im Christentum, des Geistes der Spaltung und der Selbstverherrlichung – nur „bei uns“ ist alles gut und wahr. Priester Florenski entlarvt ständig irgendwelche Häresien. Aber in seinem Fanatismus gibt es keine Unmittelbarkeit und Einfachheit, er ist einer leidenschaftlichen Empörung nicht fähig, er widersetzt sich fanatisch diesen Häresien nur um des orthodoxen Stils willen, um eines geordneten Systems [des kirchlichen Semitismus] (der Orthodoxie) willen.

Sehr unangenehm berührt die Haltung des Priesters Florenski gegenüber dem Katholizismus. Sie ist eine Wiederholung slawophiler Thesen. Es ist peinlich, seine Aussagen zu wiederholen, wie sehr in unserem orthodoxen Osten alles in Ordnung und wohlgestaltet, im Westen der anderen dagegen nichts außer Zerfall ist. Priester Florenski selbst weiß ganz genau, dass bei uns alles [äußerst] (sehr) ungünstig und ungestalt ist, dass die reale Orthodoxie mit der idealen Orthodoxie Chomjakows viel zu wenig gemein hat. Auch Chomjakow selbst wusste das bereits, aber er hatte immer noch eine Naivität, eine alltägliche Spontaneität, von der bei Priester Florenski keine Spur übrig ist. Zuviel ist auch schon geschehen seit den guten alten slawophilen Zeiten; geistige Revolutionen trennen uns von jenen Zeiten, zu viel ist bekannt und aufgedeckt worden. Heute läuft unsere Unwahrheit nackt durch die Gassen. Aber der gesamte Stil Florenskis will den religiösen Realismus der Geschichte nicht wahrhaben.

Jedenfalls ist es unzulässig, alle katholische Mystik als Mystik des Leibes zu betrachten, im Gegensatz zur orthodoxen Mystik als Brust- oder Herzmystik. Die Erinnerung an das heilige Herz des Franziskus erhebt sich dagegen. [Eine solche semitische Abneigung gegen die „Nichtjuden“ lässt sich nur schwer für echt halten.] Priester Florenski kann im Grunde seiner Seele die großen Heiligen und großen Mystiker der westlichen Welt, der Welt der „heiligen Wunder“, nicht so behandeln. Dabei kommt er in seiner Stilisierung des orthodoxen [orthodox-semitischen] Fanatismus etwa zu solch hässlichen Aussagen:

„Hier besteht ein tiefgreifender Unterschied zwischen der orthodoxen Mystik und der häretischen Mystik, die stets vom Geist der Unzucht und der Verderbnis besessen ist“ (S. 342).

Wenn wir berücksichtigen, dass Priester Florenski nur die orthodoxe Mystik im engen und präzisen Sinne des Wortes, etwa die des heiligen Symeon des Neuen Theologen oder des heiligen Makarios von Ägypten als nicht häretisch und als kirchlich betrachtet, dann erweisen sich als vom Geist der Unzucht und Verderbnis solche Mystiker besessen wie Eckhart oder J. Böhme, die rechtschaffen und rein waren, [Menschen von heiligem Lebenswandel,] wenn auch ohne den offiziellen Stempel der Heiligkeit. Auch der heilige Franziskus und die hl. Katharina von Siena sind wegen Unzucht und Verderbnis zu verurteilen, schließlich ist ihre Mystik nicht orthodox, d. h. ketzerisch.

Die transzendentale Erkenntnistheorie des Priesters Florenski, von der oben die Rede war, bringt ihn dazu, die Bedeutung von Dogmen im religiösen Leben, Dogmen als äußerer Gegebenheit, außerordentlich zu überhöhen. Hier kommen wir zum grundlegenden Fehler der ganzen Religionsphilosophie des Priesters Florenski, seiner gesamten Konzeption von Kirche. Als neuer und empfindsamer Mensch erkennt Priester Florenski selbstverständlich nur die Erfahrungstheologie an; er ist dem geistlichen Leben zugewandt und kann nicht umhin, die Seminarscholastik zu verachten. Hier aber verheddert er sich. Einerseits offenbaren sich Dogmen in der spirituellen Erfahrung, im geistlichen Leben; andererseits ist das Dogma das Kriterium für gesunde und richtige spirituelle Erfahrung und geistliches Leben. Dogmen werden in der spirituellen Erfahrung immanent offenbart, und Dogmen werden der spirituellen Erfahrung transzendent auferlegt.

Priester Florenski ist sehr misstrauisch und zögerlich gegenüber spiritueller Erfahrung, gegenüber einem Leben im Geiste, er verlangt unermüdliche kirchlich-dogmatische Prüfung des Geistes. Das Geistliche kann sich als seelisch erweisen, das Göttliche als menschlich, als Willkür und Selbstbestätigung. Und so frage ich: Was sind für Priester Florenski die formalen Zeichen der Geistlichkeit, woher weiß er, was wirklich geistlich ist und was nicht? Das religiöse Kriterium der Spiritualität, des Lebens im Geiste, ist für ihn das kirchliche, dogmatische Bewusstsein. Dabei ist doch von den ersten Seiten seines Buches an klar, dass Florenski im Gefolge Chomjakows keine äußeren, formalen Kriterien für Kirchlichkeit anerkennt.

„Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirche ist der beste Beweis für ihre Vitalität … Was ist Kirche? Sie ist neues Leben – Leben im Geist. Was ist das Kriterium für die Richtigkeit dieses Lebens? Die Schönheit“ (S. 7).

Aber wenn Kirchlichkeit Leben im Geist ist, und wenn das Kriterium eines rechten kirchlichen Lebens die Schönheit ist, warum ist dann zum Beispiel J. Böhme nicht in der Kirche, warum hat er nicht im Geist gelebt? Nach den äußeren, formalen Kriterien der Kirchlichkeit war J. Böhme ein Lutheraner und ein gnostischer Ketzer vor dem Gericht des offiziellen katholischen und orthodoxen Bewusstseins – nach den Kriterien von Geist und Schönheit war er ein echter Christ der Kirche. Warum soll vielen Mystikern, Menschen eines rechtschaffenen Lebens, eines wahren Lebens in Geist und Schönheit, nach den internen Kriterien von Geist und Schönheit die Kirchlichkeit abgesprochen und Häresie zugeschrieben werden, die sich in die externen, formalen, offiziellen Kriterien nicht einfügen?

Ich denke, dass Chomjakows Verständnis von Kirche als einem Leben im Geist, in Liebe und Freiheit zu sehr radikalen Konsequenzen führt. Chomjakows Auffassung von der Kirche lässt keinerlei äußere Autorität zu, keine Materialisierung des unerforschlichen geistlichen Lebens auf der physischen Ebene, keinerlei Verbindlichkeit für das geistliche Leben nicht nur der Stimme des Papstes, sondern auch der Stimmen von Synod und Patriarchen. In Chomjakows Konzeption lag eine ewige, unvergängliche Wahrheit, die über die vergängliche historische Gestalt des Slawophilismus hinausging. Priester Florenski dagegen sitzt zwischen zwei Stühlen, und sein Bewusstsein wird von einer schmerzhaften Dualität zerrissen, nicht von Antinomie, sondern von Dualität und Ambiguität.Kirchlichkeit hat keine äußeren, formalen Zeichen und Kriterien, sie ist Leben in Geist und Schönheit. Dies ist eine These von Florenski. Seine andere These, die sich durch das ganze Buch zieht, lautet wie folgt: Nur ein solches Leben im Geist und in der Schönheit ist religiös erlaubt, richtig, gerechtfertigt, das nach den formalen, äußeren Kriterien der Kirchlichkeit kirchlich ist. Alles, was nicht im wörtlichen, religiösen, äußerlich formalen Sinne des Wortes orthodox ist, ist verdächtig, ungesund, Täuschung und gar noch Unzucht. Hier nun empfehle ich Priester Florenski dringend, zwischen diesen beiden Thesen zu wählen, nicht zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Als neuer Mensch, Modernist, nach seiner Natur feinfühliger Mystiker hegt er die erste These und ergänzt Chomjakows Auffassung von Kirchlichkeit um das Kriterium der Schönheit. Als Stilisierer der archaischen Orthodoxie, als Hüter der Antike, des Väterglaubens und Väterlebens, als sich Errettender hält er auch an der zweiten These fest. Er ist wie jeder Dekadente nicht zur heroischen Entscheidung fähig, und auch nicht zu schöpferischer Synthese. Er findet ein stilistisches Ventil.

„Die geistlichen Altväter haben sozusagen ein geübtes Auge, hochwertiges geistliches Leben zu erkennen. Der orthodoxe Geschmack, die orthodoxe Gestalt wird empfunden, unterliegt aber nicht der arithmetischen Berechnung; Orthodoxie wird erwiesen, aber nicht bewiesen“ (S. 8).

[Leider ist nicht nur der orthodoxe Geschmack zu spüren; auch die orthodoxe Geschmacklosigkeit wird allzu oft empfunden, wahrscheinlich auch von Priester Florenski selbst.] Er zwingt der alltäglichen, realen Orthodoxie seine Ästhetik auf.

Und es ist äußerst schade, dass Priester Florenski selbst sein Auge in der Erkennung und Aufdeckung von Häresien geübt hat. Hinter jeder Entlarvung von Häresien und jedem Anathema wird allzu leicht nicht nur Missgunst, sondern auch Bosheit offenbar, der muslimische Geist im Christentum. Wahre Gnosis beginnt erst, wenn das Interesse an Häresie versus Orthodoxie verschwindet. Die Ausrichtung des Willens auf die Bewahrung der Orthodoxie und die Aufdeckung der Ketzerei verschließt den Weg der Gnosis für das kirchliche Bewusstsein. Die Orthodoxie degeneriert zu einem völlig äußeren, formalen Kriterium, das jeder Bewegung des geistlichen Lebens gegenüber feindlich gesinnt ist. Der Transzendentismus degeneriert zum Formalismus, zu einer äußeren Barriere für das innere Leben, zu einer polizeilichen Maßnahme gegen die immanente geistliche Erfahrung – die Erfahrung der Liebe und Erkenntnis in geistlicher Freiheit.

Priester Florenski gesteht natürlich zu, dass die Dogmen aus Erfahrung entspringen. Dogmen sind Tatsachen, mystische Begegnungen. Dogmen sind keine äußere Offenbarung, keine äußere Gegebenheit, sondern eine innere Offenbarung, eine dem menschlichen Geist immanente Erleuchtung. Die dogmatischen Formeln haben der religiösen Erfahrung lediglich eine ontologische Beschreibung gegeben, sie waren demokratischer Ausdruck und Festschreibung stabiler und ewiger Elemente religiöser Erfahrung. Auch im Dogma liegt eine absolute, bleibende Wahrheit. Aber eine Dogmatik, in der sich die Statik gegen die Dynamik richtet, in der die einen Elemente der religiösen Erfahrung die andere Elemente vernichten, d. h. in der die Erfahrung erstarrt und statisch verabsolutiert wird, ist tödlich. Der Transzendentismus, die Außergöttlichkeit des Menschen und der Welt, die Distanz zwischen Mensch und Gott, zwischen Welt und Gott ist ein unvermeidliches Moment religiöser Erfahrung, ein unvermeidlicher Durchgang durch die Zersplitterung, durch polare Entzweiung. Wahrhaftig aber ist nur die Transkription des Transzendentismus aus der Erfahrung. Jede ontologische Transkription des Transzendentismus, jede Verabsolutierung desselben birgt die Gefahr einer statischen Verschleppung der religiösen Erfahrung. Absoluter Transzendentismus ist gerade [religiöser Semitismus] – das Alte Testament.

Das Neue Testament ist Immanentismus, die Botschaft des Evangeliums ist die Botschaft von der Immanenz Gottes zum menschlichen Geist. Und die rein transzendentale Ontologie im Christentum ist noch immer ein alttestamentliches Erbe. (Abstrakter) Transzendenzismus ist religiöse Unreife. Die gesamte transzendente Lehre über die Erschaffung der Welt und des Menschen, die gesamte orthodoxe Theologie, Kosmologie und Anthropologie des Christentums ist biblisch, alttestamentlich [jüdisch] (judaisch), und nicht neutestamentlich. Die Antinomie des Transzendenten und des Immanenten wird im reifen christlichen Bewusstsein beseitigt, im neuen Adam überwunden. (Es gibt ein Transzendentes, aber es ist in der immanenten Erfahrung gegeben, es ist lediglich Transzendierung).

Das Wertvollste im Buch von Priester Florenski ist seine Antinomielehre. Das religiöse Leben ist seinem Wesen nach antinomisch, es enthält dem Verstande nach unvereinbare und widersprüchliche Thesen und hebt diese Widersprüche auf geheimnisvolle Weise auf. Diese Antinomie des Transzendenten und des Immanenten ist vernünftig unlösbar und unüberwindbar; sie wird in der religiösen Erfahrung ausgelebt und dort aufgehoben. In der höchsten Erleuchtung verbinden sich die Gegensätze. Alles, was Florenski über Antinomie schreibt, ist ausgezeichnet, es sind die besten Seiten seines Buches, und an manchen Stellen ist es sehr tiefgründig. Aber er selbst verfolgt diese Antinomie nicht konsequent, er irrt ab auf einen ganz anderen Weg. So ist die extreme Verabsolutierung und Dogmatisierung des Transzendentismus allein schon Verrat an jenem antinomischen religiösen Leben, in dem sich der Transzendentismus auf geheimnisvolle Weise mit dem Immanentismus verbindet. Priester Florenski will in transzendentaler Ontologie und Dogmatik traditionell und orthodox das auflösen, was nur in religiöser Erfahrung aufgelöst werden kann. Transzendenz und Immanentismus sind antinomische Aspekte der religiösen Erfahrung, nicht aber Ontologie, nicht Metaphysik, nicht Dogmatik. Florenski ist zu sehr Platoniker und daher Dualist. Der kirchliche Platonismus [ist] (kann sich herausstellen als) verabsolutierter, statischer Dualismus, der das Stehenbleiben, die Verzögerung, die Grenzen in der spirituellen Erfahrung zementiert. Die himmlische, göttliche Realität erweist sich als transzendent zur irdischen, menschlichen Realität, es gibt keine Bewegung im geistlichen Leben und in der religiösen Erfahrung, die nicht absolute Schranken und Hindernisse kennen würde. Überall ist Abgrund und Distanz.

Der Platonismus war großartig und lichttragend für die heidnische Welt, aber für die christliche Welt [ist er gefährlich und bitter in seinen Früchten,] kann er den Materialismus als die Kehrseite des Platonismus hervorbringen. Der platonistische Dualismus führt zu einer ängstlichen und misstrauischen Haltung gegenüber geistlichen Erfahrungen. Nur diejenige geistliche Erfahrung scheint Priester Florenski authentisch und gesund, die den offiziellen Stempel der Heiligkeit hat. Aber was sollen wir arme Sünder tun? Können wir die Kraft aufbringen, ein höheres geistliches Leben zu wagen? Jede Initiative im geistlichen Leben, jeden Freimut, im Heiligen Geist zu leben, beäugt Priester Florenski misstrauisch, sieht darin Stolz und menschliche Willkür. Doch auch diejenige Heiligkeit, die später offiziell anerkannt und in den ikonischen Antlitzen der Heiligen statisch verehrt wurde, war an ihrem Beginn ein gewagtes Unterfangen. Priester Florenski verliert sich unfreiwillig in formale, offizielle Kriterien für Heiligkeit. Als Stilisierer der archaischen Orthodoxie zieht er die „Demut“ dem gewöhnlichen, alltäglichen Leben in Sünde vor – dem „Stolz“ des spirituellen Aufstiegs, dem Wagemut zu allzu weiten geistlichen Expeditionen. [Dies ist der Stil der russischen Altväter, die lehrten, die Last des Gehorsams gegenüber den Folgen der Sünde zu tragen, sich vor der „Welt“ zu demütigen, die so nachsichtig gegenüber der spießbürgerlichen Mitte des menschlichen Lebens waren.] Die Lehre von der Sünde artet aus in Feindseligkeit gegenüber der geistlichen Dynamik, dem geistlichen Aufstieg. Wo ist das geistliche Leben für uns Sünder, ist es etwa für uns da, für die Kleinen? Es bedarf der Demut und nicht der Steigerung des geistlichen Lebens, nicht der Entdeckung anderer Welten; es bedarf der Last der „Welt“, nicht der Überwindung der „Welt“, nicht der Befreiung von der „Welt“, und nicht der Kreativität des neuen Lebens. Das ist die Linie der geistlichen Demokratisierung des Christentums, der Feindseligkeit gegenüber seiner geistlichen Aristokratisierung. Es ist die Anpassung des Christentums an die menschliche Mitte, an die „Welt“. Das ist christliche Exoterik, der sich Florenski seiner Natur gemäß nicht bis zum Ende hingeben kann, und die er mit einigen Anspielungen auf die christliche Esoterik verbindet (s. S. 418). Aber er geht in seiner Stilisierung der demokratischen, alltäglichen, archaischen Orthodoxie zu weit – weiter als ihm selbst lieb ist, weil er selbst anders ist und sich zu anderem hingezogen fühlt.

Diese Dualität Florenskis ist überall wahrnehmbar: Der geistliche Aristokrat stilisiert sich nach demokratischer Art. Die Degeneration der Demut bringt eine große religiöse und moralische Gefahr mit sich, sie steht der Erfüllung des Bundes Christi im Wege: „Seid vollkommen, gleichwie euer himmlischer Vater vollkommen ist“. Diese falsche Demut hemmt das geistliche Wachstum und lässt einen auf den niederen Ebenen des Lebens zurück; das ist nicht das Evangelium, nicht das neutestamentliche Pathos der unendlichen Nähe von Mensch und Gott und der endlosen Bewegung im geistlichen Leben, das ist das Pathos der unendlichen Ferne, des transzendenten Abgrunds zwischen Mensch und Gott. Die letzte Grenze dieser Demut, dieses erniedrigenden transzendentalen Dualismus muss der lebendige Materialismus und Positivismus sein, die Kluft zwischen Religion und Leben. Priester Florenski ist sich sehr wohl bewusst, dass die Natur des Geistes im Christentum nicht ausreichend offenbart wurde.

„Im Allgemeinen, im Durchschnitt und für gewöhnlich kennt sowohl das persönliche Leben eines Christen, außerhalb seiner Höhenflüge, als auch das alltägliche Leben der Kirche nur wenig, vage und verschwommen den Heiligen Geist als Person. Und damit verbunden ist die ungenügende, nicht ständig bewusste Kenntnis von der himmlischen Natur der Kreatur“ (S. 111).

„Dies ist kein Zufall der Theologiegeschichte, sondern eine unveränderliche Folge in der Erfüllung von Stunden und Zeiten, eine notwendige und unverzichtbare Entfaltung der relativ undeutlichen Offenbarung des Geistes als Hypostasis, ein Mangel an Leben selbst“ (S. 118).

„Eine Art Stoff, eine Art Körper aus feinsten Sternenstrahlen ist in die Grundfesten der Welt gewebt: Etwas wird erwartet. Etwas fehlt, die Seele schmachtet nach etwas, sie will erlöst werden und mit Christus sein“ (S. 128).

Priester Florenski ist eine neue Seele, und er muss diese Bestrebungen, diese Erwartungen und Wünsche einfach haben. (Er wartet auch auf eine neue Offenbarung des Geistes.) Aber er hat solche Angst vor sich selbst und stilisiert sich so orthodox-archaisch, dass seine Suche nach der Offenbarung des Geistes nur zaghaft ist. Er hat zu viel Angst vor der Ohnmacht und dem Versagen des „neuen religiösen Bewusstseins“. Er fürchtet jede Initiative zur Offenbarung des Geistes, jede menschliche Kühnheit im geistlichen Leben. Aber der Geist offenbart sich im Menschen und in der Menschheit durch den Menschen und durch die Menschheit; die Offenbarung des Geistes kann keine transzendente Stimme von oben und außen sein, sie ist eine immanente Stimme im Inneren, in der Tiefe. Der Geist kann sich nicht außerhalb des menschlichen Handelns, außerhalb der Spannung der menschlichen Natur offenbaren, denn das Leben im Geist ist das göttlich-menschliche Leben, das gemeinsame Wirken von Gott und Mensch. Aus Furcht verurteilt Florenski den Menschen zum passiven Warten, bei dem kein Ende absehbar ist. Er tröstet sich damit, dass eine neue Offenbarung des Geistes bereits im heiligen Serafim, dem Altvater Ambrosius und anderen russischen Altvätern angelegt ist, will sich aber die Bürde der Offenbarung des Geistes nicht auferlegen, die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Die Heiligen und Altväter sollen für uns handeln, wir aber müssen passiv warten und uns demütigen. Aber man kann beim besten Willen weder bei Ambrosius noch bei den anderen Altvätern die „neuen, bisher fast unerkennbaren rosafarbenen Strahlen des kommenden, unvergänglichen Tages“ finden. Es gibt sie bei Altvater Sossima, in den genialen schöpferischen Einsichten von Dostojewski, nicht aber bei dem echten Ambrosius, [der die Last und Bürde der „Welt“ trug und nicht frei von langweiliger Alltäglichkeit war]. Allein das Antlitz des heiligen Serafim ist licht, doch auch ihn kann man nur schwerlich mit den neuen Hoffnungen in Verbindung bringen.

Bei Priester Florenski gibt es nicht einmal Anfänge des wahren neuen Bewusstseins darüber, dass die Welt jetzt in eine Ära der anthropologischen Offenbarung eintritt, zu der die Initiative vom Menschen selbst ergriffen werden muss, auf das eigene Risiko hin, dass die göttliche Offenbarung in den Menschen übergehen und durch ihn fortbestehen könnte. Dies gerade ist der Eintritt in das Zeitalter der religiösen Volljährigkeit. Florenski hält an der religiösen Minderjährigkeit, an der kirchlichen Demokratie fest. Er hat schreckliche Angst davor, sich von jener Kirchlichkeit zu lösen, wie sie sich auf der physischen Seinsebene offenbart. Er will die physische Leiblichkeit, die Materialität des religiösen Lebens bewahren und schützen, d. h. selbst in der Kinderstube des Christentums bleiben und die anderen dort belassen. Er verschließt bewusst die Augen vor den tiefen Schwankungen und Umwälzungen der physischen Seinsebene, der physischen Leiblichkeit des Lebens, der Materialität des menschlichen Lebens. In der Welt, im kosmischen Entwicklungsprozess entwächst der Mensch jener relativen Stabilität des körperlich-stofflichen Lebens, die absolut unverrückbar schien. Diese physische Ebene des Lebens stellte sich nicht als Sein, sondern als Alltag heraus.

Die schmerzhafte Krise des Übergangs von materiellen, physischen Manifestationen und Symbolen zur Manifestation des höheren geistlichen Lebens betrifft alle Sphären. Dies ist eine globale Krise. Sie wirkt sich schmerzhaft auf das kirchliche Leben aus. Das autoritäre Kirchensystem, gegründet auf dualistischer, transzendentaler, platonischer Metaphysik, unterstützte (nicht selten) in der Erziehung der Menschheit den Materialismus des Lebens. Heute nun zerfallen in der Kirche ihr physischer, materieller Leib, ihre Manifestationen auf der physischen Ebene, die immer historisch relativ waren. Im Leben der Kirche vollzieht sich auf mysteriöse Weise eine Weltveränderung hin zur Offenbarung des Geistes im Menschen, zu einem Appell an das geistliche Fleisch. Und das träge physische Fleisch der Kirche ist jeder Suche nach einem höheren geistlichen Leben feindlich gesinnt, es hält den Menschen auf den niederen, infantilen Stufen fest. Der materialistische Kirchengeist ist das Gesicht eines vom Alter gerunzelten Babys. Aber mystische, geheime Traditionen waren in der Kirche immer lebendig, und hinter dem materialistischen, demokratischen Gesicht der Kirche war immer ein ewiges, absolutes, geheimnisvolles Gesicht verborgen, das die Pforten des Hades nicht überwinden können. Im Zeitalter der Schwankungen und Zersetzungen der physischen Seinsebene, im Zeitalter des kosmischen Wirbelsturms, der jede materielle Alltagsstabilität zu Staub macht, soll das geistliche Fleisch der Kirche, ihr ewiges Antlitz, ihr innerstes Wesen zum Vorschein kommen.

Aber das will Priester Florenski nicht, er hat Angst davor. Er stilisiert sich überraschend konsequent und nachhaltig in der Manier der materialistischen Kirchlichkeit. Er ist für „Frieden“ und „Natürlichkeit“, gegen übertriebene Spiritualität, für das Leben der Väter und gegen die Befreiung im Geiste. Er ist der Feind des geistlichen Dürstens nach einer Befreiung von der „Welt“, vom physischen Geschlechtsverkehr, von fleischlicher Kost, von allen Beschwerlichkeiten des materialistischen Lebens. Es sei gut, sich des Sexuallebens zu enthalten, aber schlecht, geistig frei vom physischen Sexualleben zu sein und es in spiritueller Liebe zu überwinden; Fasten ist gut, Vegetarier zu sein hingegen schlecht. Wie charakteristisch ist doch diese Idealisierung des organischen Volkslebens gegenüber allem Intelligenten und Kulturellen! Was jedoch bei den Slawophilen noch naturgemäß daherkam, das findet sich bei Priester Florenski stilisiert. Schließlich gibt es jenes organisch-vortreffliche Alltagsleben der Bauern, Kaufleute, Adligen gar nicht mehr. Es ist eine allzu unzeitgemäße Romantik. Alles zersetzt sich und zerfällt in diesem ethnisch-materiellen Leben, nichts gibt es darin zu schützen. Mit alttestamentlichem Pathos verteidigt Priester Florenski stets und in allem das Gesetz, das Rechtmäßige, und fürchtet vor allem anderen die geistliche Freiheit. Das Kosmische ist für ihn zugleich das Natürliche, das Vollkommene. Er hat solche Furcht vor dem alten Fleisch der Welt, dass er im Gesetz, im Gehorsam gegenüber den Folgen der Sünde bleibt.

Aber wie sich Priester Florenski auch als Typus des rechten, orthodoxalen Rechtgläubigen stilisieren mag, so kommt er doch nicht am Vorwurf der Häresien, der Freidenkerei und der Neuerungen nicht vorbei. Die alte, äußere, materialistische Kirchlichkeit wird die Lehren Florenskis von der Gehenna, von der Sophia und vieles andere nicht annehmen. Priester Florenski ist dafür zu originell, wirklich originell. Ich würde sogar sagen, dass Priester Florenski in seiner ganzen Denkweise ein Original ist, fast schon ein Exzentriker. Das macht ihn interessant, manchmal symphatisch, manchmal abstoßend. Aber die [orthodoxe] (offizielle) Kirchlichkeit erträgt nichts Originelles; sie ist ob jeder geistigen Unabhängigkeit gekränkt. Die Lehre des Priesters Florenski über die Gehenna ist durchaus originell, interessant und doch – wahrscheinlich – nicht orthodox genug; man wird darin wohl doch Elemente des verhassten Origenismus finden, eine Art Gnostizismus, die Leugnung der orthodoxalen Höllenqualen. Wie brillant die Lehre von Priester Florenski über die Gehenna aber auch sein mag, wie sehr sie sich auch über die allzu groben Vorstellungen des kirchlichen Materialismus erhebt, ist in ihr immer noch eine Verabsolutierung einzelner Momente religiöser Erfahrung verborgen, die Verwandlung des religiösen Weges in Ontologie. Die Erfahrung des Schreckens des Todes und der Durst nach Erlösung sind Stationen des religiösen Weges, Momente der religiösen Erfahrung, die die christliche Seele durchlaufen muss, aber keine absolute und endgültige Ontologie. Es ist eine Psychologie des Todes möglich, aber eine Ontologie des Todes ist unmöglich, sie ist ebenso falsch wie eine Ontologie des absoluten Transzendentismus. Die Frage nach der Gehenna ist die Frage nach der Reise der Seele. Eine orthodoxal-kirchliche Lösung für die Frage nach dem Ursprung der Seele und den Schicksalen der Seele, nach der Begleitung des kosmischen Prozesses durch die Seele ist einfach nicht existent, es gibt da nur einen leeren Ort, einen klaffenden Abgrund am Anfang und am Ende. Priester Florenski ist ein zu kluger und subtiler Mensch, um das nicht zu spüren. Und er spricht schüchtern und vorsichtig von einer Art Präexistenz der Seele, obwohl er das Wort „Präexistenz“ selbst fürchtet, schließlich ist es durch Origenes kompromittiert worden. Jedoch versäumt er es, die eschatologische Frage nach der Gehenna mit der Frage nach der Präexistenz der Seele, nach ihrem Ursprung zu verbinden. Doch schließlich ist das ein und dieselbe Frage.

Priester Florenski ist ein filigraner Juwelier in der Erforschung von Detailfragen, doch ihm fehlt die Synthese. Es muss offen gesagt werden, dass die Frage der Reinkarnation und der Verbindung der Seele mit der kosmischen Entwicklung im Bewusstsein der Kirche nicht vollständig gelöst ist. Es ist nur klar, dass die östliche Karma-Lehre für das christliche Bewusstsein nicht akzeptabel ist, da das Karma-Gesetz das Schicksal einer unerlösten Seele darstellt, die die geschenkte Gnade Christi des Erlösers nicht empfangen hat. Die christliche Revision der Reinkarnationslehre ist jedoch Aufgabe der christlichen Gnosis. Durch die Gnade Christi wird die Seele vom Gesetz des Karma befreit, und ihre Errungenschaften übersteigen alle natürliche Evolution. Die Frage der Gehenna muss aus der Phase des infantilen Transzendentismus in die Phase des reifen Immanentismus überführt werden. Doch Priester Florenski verschließt davor bewusst die Augen. Und trotzdem wird er nicht um den Häresievorwurf herumkommen, denn jede unabhängige und freie Äußerung ist „ketzerisch“.

Die letzten Kapitel von „Säule und Sockel der Wahrheit“ handeln von Freundschaft und Eifersucht. In den Briefen über Freundschaft und Eifersucht liegt das ganze Pathos des Buches. Priester Florenski sieht in der Freundschaft das rein menschliche Element der Kirchlichkeit. Er sagt viel Gutes und Schönes über Freundschaft, aber all das ist unendlich weit von der orthodoxen Realität entfernt, in der das Pathos der Freundschaft zu finden keine leichte Aufgabe ist. Das geschieht bei Florenski ganz individuell, er rechtfertigt lyrisch die antiken Gefühle. In der Wirklichkeit des [orthodoxen] (offiziell-kirchlichen) Lebens ist das Pathos der Missgunst und der Verurteilung viel stärker ausgeprägt als das Pathos der Freundschaft und Liebe. Und das liegt nicht allein daran, dass die menschliche Natur sündig ist, sondern auch daran, dass die entartenden Formen eines quasi-orthodoxen Bewusstseins vernichtende Feindseligkeit gegenüber dem Menschen und allem Menschlichen mit sich bringen. Aber unter dieser Feindseligkeit gelangt auch das Göttliche im Leben nur selten zum Triumph, eher im Gegenteil. Nur aktives Wohlwollen gegenüber dem Menschen und dem Menschlichen hilft, das Göttliche im Menschen zu offenbaren.

Es ist sehr aufschlussreich und bezeichnend, dass Priester Florenski sein Buch mit einer Apologie der Eifersucht beendet. Diese pathetische Verherrlichung mag teils einem Wunsch nach Originalität geschuldet sein, aber das Lob der Eifersucht ist auch innerlich für die Konsistenz des geistlichen Stils dieser Schrift notwendig. Das Pathos der Eifersucht ist [semitisches Pathos] (alttestamentlich), die Eifersucht ist im religiös-tiefgründigen Verständnis [semitischer] (judaistischer) Natur [und hat eine semitische Quelle. Das Pathos der Eifersucht ist für den Stil der semitischen Kirchlichkeit notwendig]. Eifersucht ist Fanatismus, Besitzgefühl, Spaltungswille. Im Alltag will die Eifersucht Besitz nur für sich haben, liebt nur das Eigene, die eigene Umgebung, das eigene Zuhause. Aus religiösem Eifer erwächst im Leben der Anspruch, dass der Geist nicht weht, wo er will, sondern nur „bei uns“. Im kirchlichen Leben war die Eifersucht allemal die ewige Quelle von Fanatismus, Hass und Bosheit. Dies war eine Manifestation des [semitischen Geistes im Christentum, des alten] Geistes der Eifersucht Jahwes für sein Volk Israel und des Volkes Israel für seinen Jahwe. [In religiöser Eifersucht ist stets religiöse Unreife wahrnehmbar, dieselbe religiöse Unreife wie in der religiösen Furcht.] Aber die Menschheit musste dies durchschreiten. Die Eifersucht sollte nicht mit dem ritterlichen Gefühl der Treue oder der kämpferischen Verteidigung des eigenen Rechts verwechselt werden [– einem Gefühl, das eher arisch als semitisch ist.] Der spirituelle Stil des Priesters Florenski muss das Loblied der Eifersucht singen, aber dem Geist der Ritterlichkeit ist er feindlich gesinnt. Unser Kirchenleben hat zu wenig ritterlichen Adel und zu viel des falschen Eifers, das falschen Fanatismus, der falschen Verurteilung. Die fanatische Eifersucht, oft verbunden mit dem Verrat am Heiligen, ersetzt die positiven religiösen Gefühle und ein positives geistliches Leben. In der Eifersucht und im Fanatismus liegt eine falsche hysterische Erregung, [die an unseren „wahrhaft-russischen“ Menschen so erschreckt].

Als Gegenpol zur Apologie der Eifersucht bei Priester Florenski würde ich eine Apologie des Edelmuts schreiben. Wir brauchen vor allem das Pathos des Adels. Denn die edle Herkunft eines Menschen verpflichtet. Es ist notwendig zu wählen: den Weg der Vollkommenheit, ähnlich der Vollkommenheit des himmlischen Vaters, die geistliche Entwicklung, den Weg des Evangeliums, den Weg der großen Mystiker, der die Distanz zwischen Mensch und Gott verringert, oder den Weg der falschen Demut und des Gehorsams, der die Distanz des Mensch zu Gott vergrößert und ihn am Boden festhält. Der erste Weg ist geistlicher, der zweite seelischer. Nur der erste Weg ist gottmenschlich, er setzt die schöpferische Tätigkeit des Menschen und den Adel des menschlichen Geistes voraus.

Das Buch von Priester Florenski ist ein wunderbares Werk, man liest es mit fesselndem Interesse. Sein dekadenter Geist ist nicht sofort und nicht leicht zu erkennen. [Zutiefst] (Sehr) feindlich gesinnt ist dieses Buch dem neuen religiösen Leben, dem schöpferischen Geist gegenüber. Priester Florenski hat mit großen geistlichen Anstrengungen in sich die Keime eines neuen Lebens erstickt, die neue Seele in sich abgetötet. Die Stilisierung der Orthodoxie ist für ihn ernsthafte Fessel, ernsthafte Selbstbeherrschung, nicht aber ästhetisches Spiel. Warum seine (komplexe) geistliche Erfahrung hier keinen adäquaten und direkten Ausdruck für sich fand, bleibt das Geheimnis seiner Individualität. Bekannt ist lediglich, dass Florenski ein exquisites und stilisiertes Buch für Wenige geschrieben hat, schwer zugänglich und schwer verständlich. Es ist unwahrscheinlich, dass diese stilisierte Orthodoxie die alte orthodoxe Welt zufrieden stellt, die in ihr materielles Leben vertieft ist; es ist unwahrscheinlich, dass sie von dieser nichtgeistlichen „geistlichen Welt“ verstanden wird.

„Säule und Sockel der Wahrheit“ ist der wohl letzte „Versuch einer orthodoxen Theodizee“, an der Schwelle zur Geburt eines neuen religiösen Lebens. Die künstlich-stilisierten und giftigen Blüten der „orthodoxen Theodizee“ haben heute für diejenigen, die nach höchstem geistlichen [Gipfelpunkt] (Leben) suchen, nur noch antithetische Bedeutung. Das Buch des Priesters Florenski [braucht niemand, es] ist nur Dokument einer Seele, die vor sich selbst davonläuft. Das [religiöse] (spirituelle) Erwachsenwerden, die spirituelle Befreiung rückt näher, doch dem Priester Florenski aber ist der Geist der Freiheit so fremd, so unbekannt. In seinem Buch, das sich mit den Grundfragen des christlichen Bewusstseins beschäftigt, wird das religiöse Problem des Menschen, der schöpferischen Berufung des Menschen in der Welt, der anthropologischen Offenbarung nicht einmal berührt. (Dieses Buch sagt fast nichts über Christus.) Für Florenski ist das Christentum immer noch nicht gottmenschliche Religion, es hat immer noch den für die Orthodoxie charakteristischen Hang zum Monophysitismus. Erwähnt werden sollen aber noch die wunderbaren Kapitel über Sophia. Priester Florenski ist ein Vertreter der sophiologischen Richtung in der Theologie, die von Vr. Sergej Bulgakow ausging. Im Hauptteil führt er die Tradition von Origenes und dem heiligen Gregor von Nyssa weiter, das heißt, er kämpft auf seine Weise mit der Vorstellung von der ewigen Hadesqual. Der offiziellen Theologie konnte das nicht gefallen, aber in diesem Punkt ist Vr. Florenski typisch russisch. Man kann nur bedauern, dass die großen natürlichen Gaben des Priesters Florenski [keine] (wenig) Früchte [geben können] (gaben), dass ein Mensch, der solch enorme geistliche Arbeit geleistet hat, so kraftlos für das Schöpferische ist: Er ist ein Opfer nichtreligiöser Lebenswege, welches entsetzt versucht, sich auf archaischen, bereits leblosen religiösen Wegen zu retten. Aber die spirituelle Bewegung wird er nicht aufhalten können. Archäologische Restaurierung kann niemals wahres Leben sein. In der Orthodoxie gibt es das ewig unvergängliche Heilige. Aber dieses Heiligtum hat äußeren Schutz und stilisierte Restaurierung nicht nötig – es wird auf mystische Weise in ein neues, kreatives religiöses Leben übergehen.

(1914)

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert