Sonstiges

Das mannhafte Denken Pawel Florenskis

Ein Interview mit Erzpriester Sergius Prawdoljubow

Das nachfolgende Interview gewährt einen Einblick in die derzeitige Rezeption der Werke von Florenski innerhalb der russischen Orthodoxie und Gesellschaft. Die Zustimmung, welche die „Philosophie des Kults“ bei Vr. Sergius findet (und natürlich nicht nur bei ihm), kontrastiert mit der Ablehnung durch Kreise der Schultheologie, denen Florenski durch sein mutiges, manchmal gewagtes Denken nicht so ganz geheuer ist. Dieses Interview ist ein leicht zu lesender Einstieg in die Diskussion um Florenskis Lehren, der künftig durch weitere Sichtweisen und Standpunkte ergänzt werden soll, so dass sich der deutschsprachige Leser ein tieferes Bild von den theologischen Fragestellungen wird machen können.

Am Beispiel der religiösen Vorahnungen der Alten zeigt er, dass die Menschen immer zu Gott strebten, wie diese Intuitionen sich neu im orthodoxen Glauben offenbart haben, wobei er den Glauben nicht nur auf ihnen begründet, sondern auf dem gesamten Denken der Menschheit, und überzeugend darlegt, dass alle Wahrheitssuche zu Gott führt.

Der unmoderne Gläubige

Erzpriester Sergius Prawdoljubow
Vorsteher der Kirche der lebenspendenden Dreiheit in Troizkij Golenistschew

Vater Sergius, Sie haben wiederholt gesagt, dass Vater Pawel Florenski immer noch unterschätzt wird, sein Erbe selbst in orthodoxen Kreisen nicht verstanden worden ist. Und das, obwohl das Interesse an der russischen Religionsphilosophie seit mehr als zwanzig Jahren wieder lebt und seine Bücher zusammen mit Büchern anderer religiöser Denker den Lesern zugänglich gemacht wurden.

Das überrascht, denn während der Sowjetzeit suchten die Menschen, bedrückt von der atheistischen Ideologie und den Prinzipien einer gottlosen Lebensweise, nach jeder Gelegenheit, sich mit Büchern über Gott, über den Glauben und über das Gebet vertraut zu machen. Damals waren diese meist verbotenen Bücher viel gefragter als heute, wo fast alles verfügbar geworden ist. Ich erinnere mich, wie schwierig es damals war, religiöse Bücher zu finden.

Vater Pawel Florenski hat zwei kolossale Werke hinterlassen: „Pfeiler und Grundfeste [Säule und Sockel] der Wahrheit“ sowie „Die Philosophie des Kults“. Sie sind auch heute relevant, aber es ist wichtig zu verstehen, wann sie geschrieben wurden, den Geist dieser Zeit zu kennen. Der gebildete Teil der Gesellschaft, einschließlich der Wissenschaftler, war damals geradezu berauscht von revolutionären Ideen, die Menschen unterstützten Terroranschläge, Zarenmord und Anschläge auf andere Machthaber, empfanden Sympathie für Mörder und Terroristen.

Der Unglaube wurde nicht allein zu einer Mode, sondern galt in gebildeten Kreisen als Norm. Zeitgenossen zufolge waren die Hälfte der Professoren der Geistlichen Akademie Ungläubige! In dieser Zeit nun tritt ein brillanter Absolvent der Moskauer Universität, ein vielversprechender Wissenschaftler, ohne das wissenschaftliche Studium aufzugeben, in die Geistliche Akademie ein und schreibt ein Buch, in dem er allen mehr oder weniger gebildeten Menschen überzeugend darlegt, dass der Glaube an Gott kein Atavismus ist, sondern tiefe Gründe hat, und dass der Verstand die Suche nach Gott nicht einfach ablehnen, sich nicht mit grobem Atheismus begnügen kann.

Das Buch „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ richtete sich gegen die Vorstellungen der damaligen gebildeten Kreise über die Religion, ebenso wie die „Lesungen über das Gottmenschentum“ – eine Reihe von Vorträgen, die Wladimir Solowjow in St. Petersburg im Jahre 1878 gehalten hatte, also noch bevor Vater Pawel geboren war. Dies war auch eine herausragende Leistung, aber hier wollen wir über Vater Pawel Florenski sprechen.

„Moderne“ im Einklang mit der Tradition

Warum betrachten viele Vertreter der Kirche, die die Werke von Vater Pawel gelesen haben, ihn als nicht so ganz orthodoxen Denker?

Sie beschuldigen ihn, die alte nichtchristliche religiöse Erfahrung beschrieben zu haben: die eleusinischen Mysterien, die ägyptische Mystik. Gleichzeitig vergessen sie, für wen er sein Buch geschrieben hat. Und er schrieb es nicht für die heiligen Väter, nicht für Mönche, nicht für Seminaristen und nicht einmal für die Laien, die in kirchlichen Familien aufgewachsen und von Kindheit an das Fasten und Beten gewöhnt waren. Vater Pawel wandte sich dem Milieu zu, aus dem er selbst hervorgegangen war – der Intelligenz, die vom Glauben abgefallen war, diesem gleichgültig gegenüberstand und ihn für ein Relikt der Vergangenheit hielt.

Erzbischof Feodor (Pozdeevskij)
Erzbischof Feodor (Pozdeevskij)

Am Beispiel der religiösen Vorahnungen der Alten zeigt er, dass die Menschen immer zu Gott strebten, wie diese Intuitionen sich neu im orthodoxen Glauben offenbart haben, wobei er den Glauben nicht nur auf ihnen begründet, sondern auf dem gesamten Denken der Menschheit, und überzeugend darlegt, dass alle Wahrheitssuche zu Gott führt. Das ist eine große Leistung von ihm, und es ist kein Zufall, dass sein System einen so strengen Asketen wie Bischof Theodor (Posdejewskij) begeistert hat.

Ich empfehle jedem wärmstens, die Rezension von Bischof Theodor über die Arbeit von Vater Pawel Florenski zu lesen. Viele moderne Mönche wollen Vater Pawel nicht anerkennen – für sie ist er nicht kirchlich –Vladyka Theodor aber sagt: „Nein, er ist ein echter gläubiger Mensch!“ Vladyka Theodor (Posdejewskij) ist für mich eine große geistliche Autorität. Zweifellos ist er ein heiliger Märtyrer, nur noch nicht verherrlicht.

Ich kann nicht umhin, die Meinung von Archimandrit Ioann (Krestjankin) zu zitieren. Jemand aus St. Petersburg fragte Vater Ioann, wie er sich zu Vater Pawel Florenski stellen solle. Ich will Ihnen dazu Auszug aus dem Buch Lebendige Tradition. Archimandrit Ioann (Krestjankin). Biografie und Erinnerungen vorlesen, das 2009 von der St.-Sergius-Einsiedelei bei St. Petersburg veröffentlicht wurde. Dies die Erinnerung jenes Menschen:

Ich habe einmal gefragt, wie ich mit den Werken von Vater Pawel Florenski und Vater Sergius Bulgakow umgehen soll. Ich liebte und verehrte Florenski sehr, aber ich wusste, dass viele davon irritiert war, dass er Begriffe wie „Magismus“ und „Okkultismus“ verwendete und auf einige Fakten aus diesen Gebieten zurückgriff. Der Priester sagte, dass daran nichts auszusetzen sei und er dies genutzt habe, um einige wichtige Aspekte des geistlichen Lebens darzulegen, und dass er wahrhaft orthodox sei. Über Vater Sergius Bulgakow und sein Werk hingegen sagte er Folgendes: „Es gibt solche Äpfel, Sorte Jonathan, die sehen äußerlich so schön aus, aber sie sind nicht sehr bekömmlich – wer davon isst, ändert sich im Wesen [wörtl.: in seiner Genetik]. Das heißt, es ist nicht von Nutzen, Bulgakow zu lesen, denn einige seiner Theologumena könnten im Kopf haften bleiben und die Seele schädigen.

(S. 103–104).

Dies ist die Ansicht eines geisttragenden Altvaters, dessen Rat ich 40 Jahre lang gefolgt bin, ohne dessen Rat ich nichts in meinem Leben getan habe. Nachdrücklich und verantwortungsvoll sagte er, dass Vater Pawel Florenski orthodox ist.

Ein kirchlicher Erneuerer hat dagegen die Bücher von Vater Pawel Florenski in seiner Liste der empfohlenen Literatur weggelassen und scheut sie wie Feuer, weil es eben Orthodoxie ist, weil die Heilige Dreifaltigkeit dort als Wesensgleiche und Unteilbare bekannt wird – unsere Modernisten haben einen solchen Glauben nicht.

Mannhaftes Denken

Das heißt, die einen sind unzufrieden, weil Vater Pawel nicht ausreichend orthodox ist, andere – gerade, weil er es ist?

Ich habe einmal in den neunziger Jahren im Haus der Wissenschaftler gesprochen und mich besonders darüber gefreut, dass Boris Wiktorowitsch Rauschenbach dort anwesend war. Mir ist sofort ein Spruch von Ludwig Feuerbach eingefallen, der mir sehr gut gefallen hat: „Der Gedanke“ ist im Deutschen männlich.

Ich habe diese Worte von Feuerbach in Anwesenheit von Boris Wiktorowitsch wiederholt – er war Deutscher – aber ich habe auch gesagt, dass die Deutschen, die den Mut des Denkens lieben, auch der nämliche Feuerbach, sehr wenig von jener wirklichen Mannhaftigkeit besitzen, wie sie uns vielmehr der äußerlich sanfte, intelligente Florenski demonstriert hat. Sein Denken ist wirklich mannhaft, es überwindet alle Hindernisse und geht bis zum Ende, zu den verantwortungsvollsten Fragen, so, wie Hiob seine Fragen stellte!

Er legt dar, was ein Mensch ohne geistliche Erfahrung und theologisches Wissen bei den heiligen Vätern nicht sofort verstehen kann, spricht unsere Sprache, nutzt alle von der Menschheit angehäuften wissenschaftlichen Erkenntnisse, hört nicht auf, stößt bis an die Grenzen vor, behauptet: Die Einheit der Dreiheit ist absurd, aber gerade dies ist die göttliche Wahrheit. Entweder du glaubst daran oder nicht.

Natürlich ist solch ein Mut des Denkens nicht für alle akzeptabel, er macht einigen Angst. Mir scheint, dass es bei vielen heutigen Mönchen in ihrer Liebe zu Gott, zum Gebet auch ein Element der Angst vor der Außenwelt gibt – sie fürchten, sich davon erfassen zu lassen. Vielleicht weisen sie Vater Pawel Florenski deshalb von sich. Ich sage das nicht, um zu urteilen, ich versuche einfach, die Gründe für die Ablehnung seiner Bücher durch einen beträchtlichen Teil der Mönche zu verstehen. (…)

Es gibt Bücher, da kann man nicht aufhören zu lesen. So erschien 1890 in München Karl Krumbachers Buch Geschichte der byzantinischen Literatur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches. Das ist 122 Jahre her, aber noch immer kommt niemand, der sich ernsthaft für byzantinische Literatur interessiert, an diesem Buch vorbei – alle verwenden es. Ebenso unmöglich ist es, die Bücher von Vater Pawel beiseite zu legen – es sind Reflexionen über Gott, gesammelt aus aller Welt, aus allen Kulturen, geschrieben in einer wunderbaren Sprache.

Ich erinnere mich, dass meine Frau und ich sein Buch Anfang der siebziger Jahre nur mit Mühe finden konnten. Wir hatten damals keine Kinder, und wir konnten es anderthalb Stunden lang zusammen lesen. Ich habe vorgelesen, und wenn sie etwas nicht verstanden hat, habe ich ihr in zwei, drei Sätzen erklärt, was da steht. Sie wunderte sich manchmal, warum er nicht einfacher schrieb, aber Tatsache ist, dass solches Material nicht in einer anderen sprachlichen Form dargelegt werden kann.

Ich bin Sohn, Enkel und Urenkel von Priestern, ich bin in Verhältnissen wie im 19. Jahrhundert aufgewachsen: eine Holzkirche, wo es kein elektrisches Licht gab, wo der Chor sang und mein Vater diente. Nur wenige Menschen in der Sowjetzeit erhielten eine kirchliche Ausbildung in solcher Fülle. Es ist eine explizit liturgische Erziehung gewesen – Kirchenslawisch ist für mich verständlicher als Russisch. Als Kind las ich unter Anleitung meines Vaters mit meinen Brüdern und Schwestern zusammen die Philokalie.

Aber das Buch Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit ist für mich zu einer mächtigen Stütze im Leben geworden. Nachdem ich es gelesen hatte, wusste ich, wie man mit Menschen über den Glauben spricht. Menschen, die vom Kindergarten an zum Atheismus gezwungen wurden, wurde in Schule und Hochschule von den unüberbrückbaren Widersprüchen zwischen Glaube und Wissenschaft erzählt, und die damals populären Zeitschriften wie Wissenschaft und Leben oder Wissenschaft und Religion schrieben ständig darüber. Das Buch von Vater Pawel aber ist eine Rechtfertigung des Glaubens.

Erstausgabe von „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ (1914)

Die Physik des Weihrauchs

Seine Philosophie des Kults dagegen betrachte ich als Rechtfertigung der Anbetung. In jener Zeit, als Tolstoi alle Sakramente ablehnte und nicht nur die Bolschewiki, sondern fast die gesamte Intelligenzija alles, was Kirche war, als etwas Veraltetes, niemandem Nützliches behandelte, schreibt Vater Pawel ein Buch, in dem er tiefgründig die Bedeutung der Sakramente und des gesamten Gottesdienstes darlegt.

Er begann 1908 daran zu arbeiten, und 1918, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs und der Kirchenverfolgung, hielt er eine Vortragsreihe in Moskau. Ich halte das für eine Heldentat – jeder hätte ihn damals erschießen können, und sein Mörder wäre ohne Strafe davongekommen. Vater Pawel aber lief in Priestergewand und Soutane herum und hielt im Zentrum von Moskau Vorträge über die Philosophie des Kults.

Diese Philosophie des Kults ist auch heute aktuell. Ein Professor hat mir einmal bei einem Vortrag gesagt, all diese (liturgischen) Bewegungen und Gesten seien zehntes Jahrhundert, und es sei nicht nachvollziehbar, wie man sich heute noch daran halten kann. Es sei notwendig, so der Professor, eine moderne Sprache zu entwickeln, eine moderne Beziehung zu Gott.

Ich respektiere und verehre diesen Mann, aber seine Worte verwirrten mich. Ein paar Jahre später konzelebrierte ich Vater Ioann (Krestjankin) und erkannte, verspürte plötzlich, dass für die vollständige Gemeinschaft mit Gott nichts weiter erforderlich ist, dass kein modernes Mittel die Verbindung mit Ihm besser und vollständiger ausdrücken kann, als sie gerade in solchen Wendungen, Gesten und Bewegungen zum Ausdruck kommt, wie sie als wertvolles Erbe der Kirche bewahrt werden. Und gerade in diesem Sinne schreibt auch Vater Pawel Florenski darüber.

Viele, die in die Kirche kommen, belächeln es auch heute, wenn der Diakon mit einem Weihrauchfass herumgeht – es erscheint ihnen ebenfalls altmodisch. Sie sollten über die mystische Bedeutung nachdenken, über die Physik des Weihräucherns, aber „wir sind faul und ohne Neugier“ [Puschkin]. Vater Pawel aber offenbart in seiner Philosophie des Kultes tiefgehend die ganze Bedeutung der Anbetung, indem er Beispiele aus dem Leben von Seesternen, Muscheln, Blumen, der Bewegung der Sonne und von vielen, vielen anderen Dingen anführt und die Struktur der Welt erklärt. Ein erstaunliches Buch, das mich buchstäblich auf die Beine stellte, viele meiner Kindheits- und Jugendeindrücke erklärte, den unbeschreiblichen Reichtum der Anbetung offenbarte, ihren Wert begründete und viele meiner Missverständnisse und Irrtümer auflöste.

Mich, der in der Kirche mit dem Weihrauchfass in der Hand aufgewachsen war, der in vielen Jahre des Heranwachsens im Milieu der Liturgie und des „Hineinwachsens“ in dieses Milieu die ganze Atmosphäre des liturgischen Lebens aufgesogen hatte, überraschte eines unsagbar – wie schnell und tief Vater Pawels Herz und Geist in die tiefsten Tiefen der grandiosen Sinfonien des liturgischen Kreises, der Sakramente, der Struktur und Form der Gebete eingedrungen war. Wer hat ihm solche Weisheit und Durchdringungskraft geschenkt? Wer hat ihm erklärt, was man erst in Jahren und Jahrzehnten begreifen kann?

Ich persönlich empfand keinerlei Fragen, Verwirrung oder Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit diesem Buch. Fragen Sie die Kritiker von Vater Pawel nach ihrer eigenen Kindheit – wer von ihnen wurde in der Kirche erzogen, wie viele Jahre haben sie im Gotteshaus mit dem Weihrauchfass gedient, bevor sie zu der Erkenntnis gelangt sind, Vater Pawel habe falsch über die Anbetung und die Sakramente gesprochen?

„Fass diesen Ofen nicht an“

Nach dem 1000. Jahrestag der Taufe der Rus [1988] kamen viele gebildete Menschen zur Kirche: Humanisten, Naturwissenschaftler. Viele heutige Priester haben vor dem Priesterseminar an den führenden Hochschulen des Landes ihren Abschluss gemacht, und es gibt Kandidaten und Doktoren der Wissenschaften unter ihnen. Es scheint, dass Vater Pawel Florenski ihnen nahe sein sollte?

Ja, viele Menschen fanden zur Kirche, aber erstens waren viele von den Aufbau- und Restaurierungsarbeiten so eingenommen, dass sie keine Zeit für Theologie hatten. Zweitens, und das ist das Schlimme, ist Gott noch nicht in unser Land zurückgekehrt. Im ganzen Land tragen Hunderte von Straßen noch die Namen von Lenin, Dzerschinskij, ich wohne an der Marxistenstraße, und der Verfall der Gesellschaft geht weiter. Sogar an der Moskauer Staatsuniversität sinkt das Niveau der Studenten jedes Jahr – ich spreche erst gar nicht von den Schulen. Wir sind im letzten Jahrhundert verwildert.

Ein kurzes Beispiel: Als wir Anfang der neunziger Jahre unser Gotteshaus wieder aufbauten, fanden wir unter den Ruinen einen Ofen, dessen Bauart uns unverständlich war. Wie sich herausstellte, blies er die Luft durch Lüftungskanäle und heizte so das Kirchengebäude. Der hervorragende Restaurator und Architekturhistoriker Wolfgang Kavelmacher sagte mir: „Vater, fassen Sie diesen Ofen auf keinen Fall an. Unser technisches Verständnis reicht nicht aus, um damit klarzukommen. In zwei- oder dreihundert Jahren werden die Menschen es herausfinden.“

Da sind wir also angekommen – wir können nicht verstehen, wie ein Ofen aus dem 17. Jahrhundert aufgebaut ist und funktioniert! Und wäre es nur der Ofen! Ein Bagger versucht, einen Graben in der Nähe der Kirche zu graben – alles bricht zusammen und er selbst fällt in die Grube. Niemand kann mehr normal ein Straßenpflaster verlegen – das Wissen ist verloren gegangen. Überall Niedergang. Solange wir Gott nicht zurückholen – den Stein, auf dem alles aufbaut – wird es weiter bergab gehen.

Vater Pawel Florenski steht so weit über unserem gegenwärtigen Horizont. Das Buch Philosophie des Kults wird deshalb wenig gelesen und verstanden, weil wir fast keine Menschen haben, die Anbetung, Worte und Begriffe gut genug kennen, um sich in diesem Gebiet leicht zu orientieren. Das ist sehr, sehr traurig. Um eine fremde Sprache zu verstehen, muss man sie studieren, in ihre Atmosphäre, Denkweise eintreten. Wer erst wird eine solche Mühe auf sich nehmen, um die Sprache, Symbole und Zeichen des überreichen Systems unserer Anbetung zu verstehen? Ich denke, dass dies sogar Seminaristen heute unzugänglich ist.

Aber die theologischen Traditionen werden doch wiederbelebt?

Wer hat Ihnen so etwas gesagt? Ich habe davon bislang nichts gehört. Wo sind die Namen der neuen Theologen? Es gibt keine. Vor ungefähr zehn Jahren schrieb ich meine Dissertation, ich war hingerissen davon, glaubte naiv, dass wir beispielsweise Italien bei der Veröffentlichung alter Manuskripte einholen könnten, wollte unbedingt vorn dabeisein. Als ich meine Arbeit über den heiligen Andreas von Kreta zur Überprüfung einreichte, beschloss ich, eine Stelle darin zu verifizieren. Ich erinnere mich genau, auf Grundlage welcher Schrift: Analecta Hymnica Graeca (13 Bände, veröffentlicht in Rom ab 1966, Monat Dezember, Kanones auf Griechisch, die außer Gebrauch und nur noch in alten Manuskripten erhalten sind).

Ich hatte keine Eile, daher begann ich, nachdem ich das Benötigte verifiziert hatte, dieses Buch als solches sorgfältig zu betrachten: die Breite der Ränder, Spalten, Index, Schriftart und -grad.

Worte können das nicht vermitteln – man muss sich anschauen, wie es veröffentlicht wurde, mit welchem ​​Geschmack und welcher Würde! Man sieht geradezu, dass die kulturelle Tradition seit der Antike nicht unterbrochen wurde. Hohe Kultur und ein geistiger „Wohlstand“, würde ich sagen. Und ich geriet in Verzweiflung, dachte: Ist es nicht vergebens, dass ich es versuche? Bei allen Anstrengungen, die wir jetzt unternehmen, werden wir in absehbarer Zeit ein solches Niveau der Veröffentlichung antiker Handschriften, das Niveau des wissenschaftlichen Lebens, das sich in der Buchveröffentlichung offenbart, nicht einmal annähernd erreichen können. Wir werden sie niemals einholen!

Die Italiener, Deutschen, Franzosen – sie verstehen die Größe der Persönlichkeit von Vater Pawel Florenski, sie verehren ihn. Sie versuchen nicht, ihn, einen Orthodoxen, zu ihrem katholischen Lehrer zu machen, aber sie verehren ihn als brillanten Denker: Sie übersetzen und studieren ihn, organisieren Konferenzen. Wir dagegen scheinen die Schärfe der Wahrnehmung verloren zu haben, auch in den geistlichen Schulen. Selbst das Niveau vieler Absolventen der Geistlichen Akademie ist sehr niedrig.

Bitte sehen Sie davon ab, diesen Brief zu lesen

Die Mönche, die Vater Pawel kritisieren, sagen, er habe falsche theologische Gedanken. Sie haben dabei den Brief über die Sophia im Blick, der in Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit enthalten ist. Aber warum ist es notwendig, alle Werke eines der klügsten Theologen wegen eines unpräzisen Briefes abzulehnen? Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel aus der Geschichte geben.

Beim Fünften Ökumenischen Konzil wurde die Frage der „drei Häupter“ – der drei antiochenischen Theologen – diskutiert. Als ich an der Geistlichen Akademie studierte, schrieb ich einen Aufsatz über die „drei Häupter“, beschäftigte mich detailliert mit der Problematik, und Vater Vitalij (Borovoj) gab mir ein „Sehr gut“. Aber zum Kern: Bischof Ibas von Edessa wurde für einen Brief der Ketzerei beschuldigt, der tatsächlich dem Geiste nach nicht orthodox war. Das Fünfte Ökumenische Konzil aber hat feierlich verfügt: Alle Werke des Ibas von Edessa sind orthodox, nur ein Brief ist es nicht. Das heißt, lesen Sie alle seine Werke, bis auf diesen Brief, von dem können Sie sich enthalten.

Das Fünfte Ökumenische Konzil ist ein Präzedenzfall. Wenn sie Verteidiger der Orthodoxie sind und Gegner der Sophiologie (die ich auch nicht verstehe und auch nicht wage, darüber zu sprechen, doch sie scheint mir zweifelhaft), warum lehnen sie dann alle Werke von Vater Pawel ab? Wegen eines Briefes? Über Ibas von Edessa konnte man sagen, dass alle seine Werke bis auf einen Brief orthodox sind, aber über Vater Pawel Florenski nicht? Dann gestehen sie zu, dass die Kirche heute angesichts unseres theologischen Niveaus kein endgültiges Urteil über den Brief über die Sophia fällen kann, enthalten Sie sich der Kritik, aber akzeptieren Sie den Rest seiner Werke, denn die sind orthodox.

Sein gesamtes theologische Erbe wegen eines fehlerhaften Briefes abzulehnen, ist dagegen falsch oder vielmehr unorthodox, woran uns der Beschluss des Fünften Ökumenischen Konzils über die Werke des Ibas von Edessa erinnert. Dies ist meine Antwort an diejenigen, die alle Werke von Vater Pawel Florenski ablehnen. Er ist keine solch bedingungslose kirchliche Autorität wie Basilius der Große, Gregor der Theologe oder Johannes Chrysostomus und hat daher das Recht, Fehler zu machen.

Die Kanonisation des Apostels Petrus widerrufen?

Kürzlich habe ich gehört, dass die Kanonisation [Verherrlichung] von Vater Pawel aktuell unmöglich ist, da er selbst bekannt hat, eine nicht existierende konterrevolutionäre Organisation anzuführen.

Falls es Ihnen aufgefallen ist: Die Kanonisation ist bei uns insgesamt zum Stillstand gekommen. Die offizielle Position der einschlägigen Kommission ist es, die Frage der Verherrlichung überhaupt nicht zu prüfen, sofern jemand sich auf die Beschuldigung hin, eine nicht existierende monarchistische konterrevolutionäre Organisation begründet zu haben, dessen schuldig bekannt hat. Diese Position ist seltsam, da sie keinerlei kanonische Grundlage hat und nicht mit den Grundsätzen der Verherrlichung übereinstimmt, die alle 2000 Jahre des Christentums lang gegolten haben.

Selbst wenn eine Person jemanden namentlich genannt hätte und jener daraufhin verhaftet wurde, ist dies noch kein Grund, seine Heiligkeit nicht anzuerkennen. Der große Märtyrer Panteleimon wurde gefragt: „Wer ist dein Lehrer?“ Er antwortete: „Hermolaus“. Dieser Hermolaus wurde sofort festgenommen. Panteleimon sollte also aus der Liste der Heiligen gestrichen werden? Er hat schließlich seinen Lehrer verraten.

Der Apostel Petrus hat Christus dreimal verleugnet – darüber wird in der Kirche in jeder Karwoche gelesen. Ist er nicht auch ein Heiliger? Es scheint, dass die Menschen nicht an die Kraft der Reue glauben – anders kann ich mir das seltsame Prinzip nicht erklären, aufgrund dessen viele heilige Märtyrer, die unter Folter Aussagen gemacht haben, nicht heiliggesprochen wurden. Der Apostel Petrus verleugnete Christus ohne jede Folter, aber der Herr verwarf ihn nicht, sondern sagte ihm nach der Auferstehung und der dreifachen Prüfung „Liebst du Mich?“: „Weide Meine Schafe“ (Joh. 21,15-17).

Thais ​​​​von Ägypten, eine ehemalige Hure, erwies eine solche Reue, dass die Engel ihre Seele sofort in den Himmel hoben. Unsere Kommission aber wird sagen: „Thais ​​​​ist eine Hure – sie kann nicht kanonisiert werden.“ Ich verstehe diese Prinzipien nicht.

Niemand beabsichtigt, Vater Pawel als Lehrer der Kirche zu verherrlichen, aber ich habe keine Zweifel an seiner Heiligkeit als heiliger Märtyrer, das heißt als Priester, der wegen seines Glaubens erschossen wurde. In der Ermittlungsakte steht geschrieben: „Diesen, da er seinem Priesterrang nicht entsagt hat …“ Sie forderten von ihm, sein Priestertum abzulegen, weil sie den Atheismus im Land durchsetzen wollten – er tat dies nicht.

Er ist ein wahrer Hieromartyrer. Wir haben in unserer Kirche eine Ikone der Neumärtyrer, auf der er abgebildet ist – ohne namentliche Kennzeichnung, so dürfen auch die Unverherrlichten dargestellt werden. Aber ich hoffe wirklich, dass Vater Pawel Florenski verherrlicht wird, wenn nicht in diesem Jahrhundert, dann im kommenden. Und damit meine ich nicht das kommende Äon nach der Auferstehung, sondern das zweiundzwanzigste.

Das Gespräch führte Leonid Winogradow

Quelle: https://www.pravmir.ru/muzhestvennaya-mysl-svyashhennika-pavla-florenskogo1/

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