Über den Vorlesungszyklus

Die Entstehungsgeschichte des Zyklus „Philosophie des Kults (Versuch einer orthodoxen Anthropodizee)“

Autor: Hegumen Andronik (Trubačev)



Hegumen Andronik (1952-2021), Enkel von Pawel Florenski, Mönch der Sergius-Dreifaltigkeits-Lawra und langjähriger Direktor des Florenski-Museums; engagierte sich stark für die Publikation der Schriften des russischen Priesters und Universalgelehrten, die zu dessen Lebzeiten und bis zum Ende der Sowjetunion totgeschwiegen worden waren. Das Florenski-Archiv, das die Familie all die Jahre vor dem Zugriff der atheistischen Machthaber hüten konnte, wurde unter seiner Anleitung ausgewertet: Die „Kultphilosophie“ ist eines der Ergebnisse seines Wirkens.

(Bild: Wikipedia)


Priester Pavel Florenskij hat von der Anthropodizee („Rechtfertigung des Menschen“, von griech. ἄνθρωπος – Mensch und δίκη – Gerechtigkeit) mehrfach Beschreibungen und Definitionen gegeben:

Anthropodizee und Theodizee! Dies sind die beiden Momente, welche die Religion bilden, denn Grundlage der Religion ist die Erlösung des Menschen, die Idee der Vergöttlichung des ganzen menschlichen Wesens. Das erste dieser Momente ist vorzüglich das Sakrament, das Mysterium, also das reale Herabkommen Gottes zur Menschheit, die Selbstentäußerung Gottes bzw. Kenosis […], eine Selbstentäußerung, die den Menschen vor dem Angesicht Gottes rechtfertigt…[1] (1906)

Der geplante und in Teilen entworfene zweite Teil der „Säule“, mit anderem Titel, die zweite Hälfte der μάθησις, d.h. die Anthropodizee, über Mysterien und Sakramente, über die Gnade und Gottesinkarnation in allen Formen und Arten.[2] (1912)

Die Anthropodizee muss auf die Fragen eine Antwort geben: „Wie kann dieses System von Emotionen und Handlungen, wenn ich mich einmal von seiner erlösenden Macht überhaupt überzeugt habe, auf mich bezogen erlösend werden?“, „In welcher realen Umgebung muss ich mich bewegen und welche Verbindung mit ihr eingehen, um meine Erlösung zu erlangen? Dies – in den Begriffen der Phänomenologie“; „Auf welchen Wegen nimmt der Mensch die Göttliche Erlösung in sich auf und wird er durch seinen Erlöser gerettet? Dies in den Begriffen der Ontologie.“ Die Anthropodizee beschreibt, wie „wir in der Gewissensprüfung uns als „Lüge“ und Unreinheit erfahren, unsere Inkongruenz zur Wahrheit Gottes erblicken – und folglich die Notwendigkeit der Katharsis.

„Nicht anders als durch die Kraft Gottes“ ist Anthropodizee möglich, denn „durch Gott leben wir in Gott, nicht selbst“. Sie ist „Niederkommen der Gnade in unseren Schoß“.

Aber „wie ist das möglich? Wie kann das ‚schwache menschliche Antlitz‘ mit der ‚Göttlichen Wahrheit‘ in Berührung kommen? Wie lässt die Göttliche Energie nicht die nichtigen Geschöpfe im Feuer aufgehen? Diese und andere Fragen erfordern ontologische Offenlegung. Übersetzt in die grobe, armselige Sprache irdischer Vergleiche: Wie kann es sein, dass der Heilige Kelch nicht wie Wachs schmilzt, unsere Augen nicht erblinden durch die unerträgliche Strahlkraft Dessen, was in ihm ist? Was wäre denn, wenn in den Kelch ein Stückchen von der Sonne gelegt würde? Und doch ist dort Das, wovor die Sonne verblasst, und… der Kelch ist unversehrt.

Es scheint wohl in manchem Augenblick, dass der Priester eine Gewitterwolke in Händen hält: Eine unvorsichtige Bewegung, und ein Blitzschlag vernichtet ihn. Dies sind Bilder. Jedoch keines dieser Bilder kann das Maß des Kontrasts zwischen Gott und Geschöpf widergeben, jenes Kontrasts, der sich zwingend verwirklichen muss, wenn die Erlösung der Kreatur möglich sein soll. Die Anthropodizee muss die Ontologie dieses realisierten Kontrasts erhellen.

Auf mögliche Fragen zum Inhalt der Anthropodizee wäre möglicherweise zu antworten: „Die verschiedenen Arten und Stufen der Kenosis Gottes müssen ihr Kernthema darstellen. Mit anderen Worten, sie muss die Kategorien geistlichen Bewusstseins und die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift behandeln, die geheiligten Riten und heiligen Sakramente, die Kirche und ihre Natur, die kirchliche Kunst und Wissenschaft usw. usw. Dies alles aber muss den Rahmen für die zentrale Fragestellung der Anthropodizee bilden – die christologische.“ (1914)

Die Anthropodizee ist ein absteigender Weg, der Weg eines in geistlichen Werken Fortgeschrittenen, überwiegend ein Weg der Praxis. Bei der Verteidigung seiner Dissertation [der „Theodizee“, d. Üb.] im Jahre 1914 erachtete Vater Pavel den Hinweis für erforderlich, dass die Ausarbeitung einer Anthropodizee schwieriger sei als die der Theodizee, weshalb er sie „für reifere Jahre und erprobtere Erfahrenheit“ zurückstelle.[3]

Im weitesten Sinne des Wortes wurden Fragestellungen der Anthropodizee durch Priester Pavel Florenskij in den zwei großen Zyklen „Philosophie des Kults“ und „An den Wasserscheiden des Denkens“ sowie in einer Reihe eigenständiger Schriften („Die Ikonostase“, „Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der darstellenden Kunst“) behandelt, die weitgehend in den 1920-er Jahren entstanden sind. Die Schrift „Theodizee und Anthropodizee im Werk des Priesters Pavel Florenskij [Teodiceja i antropodiceja v tvorčestve svjaščennika Pavla Florenskogo]“ von Priestermönch Andronik Trubačev (Tomsk 1998) liefert einen allgemeinen Überblick der Anthropodizee:

  1. Die Beschaffenheit des Menschen als Bild Gottes, seine Freiheit, den Weg des Lebens in Einklang mit dem Willen Gottes, mit Gott gegebenem Gesetz und Typen zu gehen;
  2. Die Heiligung des Menschen in den Sakramenten der Kirche, wenn er von einem Sünder zum Geheiligten, zum Heiligen wird;
  3. Menschliches Handeln, wenn das sakrale (kultische), liturgische Handeln primär ist und Weltanschauung (Wissenschaft und Philosophie), Wirtschaft und Kunst heiligt

und sie verfolgt ihre charakteristischen Merkmale (Philosophie der Wesenseinheit, ontologische und theologische Basiertheit, Symbolismus und Antinomismus) und ihre Intuition.

Im engen Wortsinn verstand Vater Pavel unter Anthropodizee den eigentlichen Zyklus „Philosophie des Kults“. In einem Gliederungsentwurf vom 18. September 1919 für eine Sammelausgabe seiner Werke überschrieb Vater Pavel den Band IV mit „Versuch einer orthodoxen Anthropodizee“, wobei er speziell die „Philosophie des Kults“ im Blick hatte, während der Zyklus „An den Wasserscheiden des Denkens“ die nachfolgenden Bände V bis VIII füllen sollte.

Erste systematische Aufzeichnungen, die später in den Zyklus „Philosophie des Kults“ eingingen, finden sich im Werk Florenskijs im Jahr 1908: Beobachtungen unter der Überschrift „Rätsel über Verflechtungen [Zagadka na zagatkach]“, die Themen „Religion und Kultur“, „Religion, Kultur und Weltanschauung“, „Kult, Weltanschauung und Wirtschaft“, „Kultur und Kult“, „Mythos und Heiligtum“, „Drei Typen von Theorien“ und „SIN“[4]. Diese Aufzeichnungen standen in Zusammenhang mit der Vorlesungsreihe „Erste Schritte der antiken Philosophie“. Aus der 6. Vorlesung dieses Kurses „Die religiöse Herkunft der Kultur“ entwickelte sich später die zweite Vorlesung „Kult, Religion und Kultur“ des Kurses „Skizzen der Philosophie des Kults“. Ein großer Teil der vorbereitenden Aufzeichnungen für den Zyklus „Philosophie des Kults“ fällt in die Jahre 1914 und 1915, und einige Themen dieser Aufzeichnungen fanden Eingang in Vorlesungsreihen Florenskijs an der Moskauer Geistlichen Akademie zu jener Zeit. Pläne für einen speziellen Vorlesungskurs zur Philosophie des Kults entstanden bei Florenskij aber wahrscheinlich erst im Frühjahr 1918, im Zusammenhang mit folgender Einladung, Vorlesungen in Moskau zu halten:

Brief von S.N. Durylin an den Priester Pavel Florenskij

Bild von Sergei Durylin
Sergei Durylin (1886-1954), russisch-sowjetischer Theologe, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller

Moskau, 19. April (2. Mai) 1918[5]

Verehrter Vater Pavel!

Wahrscheinlich sind Sie schon von Mokrinskij in Kenntnis gesetzt worden, dass in der Frage bezüglich der Organisation Ihrer Vorlesungen in Moskau, die von überaus vielen so sehr gewünscht werden, die Phase der Verwirklichung begonnen hat.

Ein Raum ist bereits gemietet. Er befindet sich nur wenige Schritte weit von M. A. Novoselov, im Gymnasium des Lehrerverbands, und kann 150 Menschen fassen. Wünschenswert wäre die Durchführung von 2 Vorlesungen in der Woche, so dass im Laufe eines Monats ein Kurs aus insgesamt 8 Vorlesungen gehalten wird. Günstig wären die Tage Dienstag und Freitag und die Zeit von 4 bis 6 Uhr. Auch andere Tage wären aber möglich. Das Entgelt wird 15 Rubel für ein Abonnement des ganzen Kurses betragen. Ein Teil der Eintrittskarten wird am Eingang verkauft. Die angemessene Zusammensetzung der Hörer ist sichergestellt. Die Karten werden nicht für alle und jeden zu kaufen sein, sondern unter Bekannten und Zugehörigen verteilt. Die Dauer jeder Vorlesung liegt in Ihrem Ermessen.

Alle Formalien sind also erledigt, und wir erwarten nun mit Freude nur noch das Folgende von Ihnen: 1. die genaue Bezeichnung des Kurses (das Thema steht Ihnen völlig frei) und ein kurzes Programm, 2. die Festlegung, zu welchen Tagen und zu welcher Zeit Sie die Vorlesungen ansetzen, und 3. wann Sie den Kurs beginnen, also den Termin der ersten Vorlesung. (Am besten wäre es, wenn der Kursbeginn auf die Thomaswoche fällt und in die oben genannten Tage und Zeiten.) Senden Sie Ihre Antwort zu Händen von Sergej Iosifovič Fudel‘, der für das Organisatorische zuständig ist. Die Antwort wird so schnell als möglich benötigt. Adresse: Arbat 47, Wohnung Nr. 1, An Sergej I. Fudel‘

Ich umarme Sie. Grüßen Sie Anna Michailovna und die Kinder.

Zum bevorstehenden Festtag meinen Glückwunsch. Möge der Auferstandene Christus Sie mit Freude erfüllen.

Ihr Sie verehrender S. Durylin

Vorlesungsplan (undatiert)

  1. SIN. Mögliche Standpunkte. Diese sind unkritisch. Den Standpunkt des religiösen Realismus vertieft motivieren. S, I und N sind nicht ineinander überführbar. Kritischer Standpunkt. Ablehnung von Definitionen [6]
  2. Untersuchungsmethode der Religion. Religion als auf dem „Leben“ fußend. Religion als Tiefe des Lebens. Das Unbewusste als Leiter vom Himmel in die Seele.
  3. Zwei Schichten des Lebens, die natürliche und die gnadenvolle; zwei mögliche Religionen: Naturreligion und Religion der Gnade
  4. Gleichnis vom Vögelchen, welches das Zimmer durchflog. Besonderes Interesse am Anfang und Ende des Lebens. Beides in der Naturreligion und der Gnadenreligion.
  5. Familie und Blut.
  6. Das Widerspiegeln der Aspekte ineinander.
  7. Der Tod als Geburt und die Geburt als Tod.
  8. Mysterien. Initiationen.
  9. Namensänderungen.

Vorlesungsplan (undatiert)

Rätsel über Verflechtungen[7]

  1. Sein im Geschaffenen (allgemeine Prinzipien).
  2. Gottesinkarnation.
  3. Sakramente.
  4. Riten.
  5. Heilige Bräuche.
  6. Heilige Schrift.
  7. Heilige Überlieferung.

Symbolik.

Katholizismus (Murav’ev). Es ist Nachfolge Christi notwendig, nicht Nachahmung.

Vorlesungsplan (undatiert)

10 Vorlesungen in Moskau

  1. Das Himmlische und das Irdische.[8]
  2. Das Prinzip der Isolation und Stratifikation.[9]
  3. Namensgläubigkeit [Imjaslavie] (und Gebet). Lehre vom Wort, von der Erkenntnis.
  4. Onomatologie. Namensänderung.
  5. Heiligung der Materie[10]. Ihre Arten.
  6. Sinn (Lebendigkeit) der Sakramente und allgemein des Gottesdienstes.
  7. Symbolik und Okkultes in der Kirche.
  8. Die sieben Sakramente.[11]
  9. Kirche und allgemeinmenschliche Religion; Grenzen der Kirche.
  10. Die Heilige Schrift und die allgemeinmenschliche Überlieferung.

Aus der Metaphysik des Kults

Kult.

Religion und Kultur.

Über die Methodik der Untersuchung von Religion.

Kult als Grundlage. SIN.

Durkheim. Meine Rezension über Bogoljubskij.

Die Ikone im 18. Jh. […] 19. Jh.

Über SIN sprechen.

Anthropozentrismus. Maßnahmen. Kosmozentrismus[?]

Kultzentrismus.

Christuszentriertheit.

Was ist Kult? – Sakramente und Riten.

Skizzen über die Philosophie des Kults

  1. Kult, Religion und Kultur.
  2. Kult und Philosophie.
  3. Kirche und Welt.[12]
  4. Riten und Sakramente
  5. Merkmale der Phänomenologie des Kults.
  6. Heiligung der Realität.
  7. Gebet.
  8. Wort Gottes.

26. April 1918, Tag der Kreuzprozession zur [Ikone der] Gottesmutter von Černigov mit dem Patriarchen.

Priester Florenskij

Dienstag und Mittwoch, von 4 bis 6 Uhr. Ostoženka, 2. Il’inskij-Seitenstraße, Gymnasium des „Verbands der Lehrer“

8., 9., 15., 16., 22., 23., 29., 30.[13] Mai, 5., 6. Juni

Am gleichen Tag schrieb Vater Pavel einen Entwurf des Anfangs seiner Vorlesungen, den er dann in leicht abgewandelter Form am Ende der ersten Vorlesung vortrug:

Uns steht die Beschäftigung mit Dingen bevor, die entweder überhaupt nicht untersucht sind, oder aber unter völlig anderen Blickwinkeln und -richtungen, als wir sie ins Auge fassen, die vor allem anderen Zielen dienten als unseren. Wir werden alles neu tun müssen…

Eine Meldung über die Vorlesungsveranstaltung erschien in der Presse, und nach der überaus genauen und umfassenden Darstellung zu urteilen, konnte sie von Florenskij selbst verfasst worden sein:

Die wesentliche Aufgabe des Kurses war es, die hohe Bedeutung des Kults (der Sakramente, des Gottesdienstes der Riten) für die Orthodoxie festzuhalten. Alle Heiligtümer des Lebens, des Denkens und christlichen Handelns streben zum kirchlichen Kult und zu dessen Zentrum, der Göttlichen Eucharistie. Aus dem Kult geht all das hervor, was sich in der Folge in der Kultur verweltlicht: Philosophie, Wissenschaft, Gesellschaftsformen, die Kunst. Der Kult (mit seinem Fundament, dem Sakrament der Eucharistie) ist die heilige und einzige Grundlage für lebendiges Denken, für Schöpfertum und Gesellschaft. Daher bilden für die Orthodoxie jene theologischen Systeme eine Gefahr, welche die zentrale Rolle von Sakramenten, von Gottesdienst, heiligen Symbolen und Riten für die Kirche, das Leben und die Philosophie nicht anerkennen wollen.

Die Vorlesungen des Priesters P.A. Florenskij verliefen vor überfülltem Hörsaal und außerordentlich erfolgreich.[14]

Die kurzen Erinnerungen S. I. Fudel’s, der 18 Jahre alt war, als er die Vorlesungen Pavel Florenskijs besuchte, unterstreichen ebenfalls das außergewöhnliche Interesse der Moskauer Hörer.

Biild von Sergei Fudel
Sergei Fudel (1900-1977), russisch-sowjetischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Theologe; mehrfach Repressionen ausgesetzt.

Ich erinnere mich, dass dies der Grundgedanke des Vorlesungskurses von Vater Pavel war, welchen er, wie mir scheint, im Sommer 1918 in Moskau unter dem Titel „Philosophie des Kults“ gehalten hat. In diesen Vorlesungen, die im überfüllten Auditorium des „Gymnasiums des Lehrerverbands“ irgendwo nahe beim Ostozhenka-Prospekt stattfanden, sprach er über die Realität des Eindringens der göttlichen Kraft der Sakramente in alle Poren des irdischen Lebens, über die Sakramente als „Feuerherde, aus denen sich göttliche Wärme in die Welt verströmt“, darüber, wie in der Taufe das geweihte Wasser der Epiphanie die unterirdischen Wurzeln des Lebens reinigt und heilt, über die Gefahr, die in der Entfremdung des persönlichen und gesellschaftlichen Seins vom Kult lauert, über die mystischen Degradationsstufen des Prozesses der Nahrungsaufnahme, angefangen vom Verzehren des Göttliches Brotes im Mahl des Sakraments bis hinab zum hastig hinuntergeschluckten Sandwich im Bahnhofsbuffet, darüber, dass es Ziel des Christentums ist die Welt zu heiligen, „durch das Kreuz seine [Gottes] Wohnstatt zu bewahren“, ihren Zerfall, ihren „Lauf ins Verderben“ zu überwinden, ihren Alltag zu verwandeln, ihr zeitliches „Dahinleben“ mit den alles durchdringenden Strahlen der Ewigkeit zu erfüllen, die der Kult hervorbringt.

Ich erinnere mich, dass er zu jener Zeit auch mehrfach in Moskauer Kirchen in Gesprächskreisen außerhalb des Gottesdienstes auftrat, zumeist über den Namen Gottes. Er sprach darüber, dass „auch nicht eine Rasierklinge zwischen den angerufenen Namen und den Genannten selbst passt.“ Das ist einer seiner frühen Gedanken. 1909 schrieb er in „Die allgemeinmenschlichen Wurzeln des Idealismus“: „Der Name einer Sache ist Substanz dieser Sache“, „Namen drücken die Natur der Sachen aus“. Genauso auch in der „Säule [und Fundament der Wahrheit]“: „Der Name Gottes ist die mystische Kirche.“[15]

Weiter erinnert sich S. I. Fudel (Pseudonym F. I. Udelov):

Als Vater Pavel im Jahr 1918 in Moskau seinen Kurs „Philosophie des Kults“ las, war die linke Seite der ersten Sitzreihe mit Moskauer Okkultisten gefüllt. Ich kannte sie von Angesicht und beobachtete, mit welch gieriger Aufmerksamkeit sie seine Worte in ihre Hefte mitnotierten. Okkultisten oder auch ihnen nahestehende Menschen waren immer zu ihm hingezogen. Er verfügte unzweifelhaft über eine stark entwickelte mystische Begabung, über eine geschärfte mystische Wahrnehmung.[16]

Okkultisten waren wirklich interessierte Hörer von Vater Pavel, der wiederum in seinen Vorlesungen diese (ebenso wie auch Positivisten und Materialisten) vernichtender Kritik unterzog. Die Mehrheit seines Publikums waren jedoch Vertreter jener neuen Strömung der Moskauer religiösen Jugend, die, dem Zeitgeist entgegen, vorbei an traditionellen Standesgrenzen zunehmend den Nachwuchs des Klerus bildete. Ebenso waren viele Studenten der Moskauer Geistlichen Akademie aus Sergiev Posad angereist, um ihren geliebten Lehrer zu hören.

Man kann vermuten, dass Florenskij diese Vorlesungen mit dem Rat und Segen von Bischof Feodor hielt, dem früheren Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie. Über einen ähnlichen zweiten Vorlesungszyklus, der jedoch nicht zustande kam, schrieb Vladyka[17] Feodor etwa um den 27. Juli 1918:

Erzbischof Theodor
Erzbischof Theodor (1876-1937), ehemaliger Vikarbischof von Moskau und Rektor der Geistl. Akademie; mehrfach repressiert, 1937 hingerichtet.

Verehrter Vater Pavel! Nach meiner Meinung muss man dem an Sie gerichteten Vorschlag unkompliziert gegenüberstehen: Wenn sie etwas hören wollen, bitteschön. Fassen Sie keine irgendwelchen speziellen Ziele ins Auge, etwa missionarisch-apologetische; Was Gott gewährt, ist auch recht. Und versuchen Sie auch, die Folgen vorab zu bedenken, gute wie auch schlechte. Vielleicht sollten Sie auch nur das von Ihnen Vorgetragene in einer für die Hörerschaft gut verständlichen Form darlegen, soweit diese intelligent und philosophisch ist, damit nicht dem Gewollten entgegengesetzte Schlussfolgerungen gezogen werden. Dies ist meine einfache Ansicht, und wenn dies annehmbar ist, so möge Gott Sie segnen.

Welche Quellen liegen nun dem vorliegenden Band „Philosophie des Kults. Versuch einer orthodoxen Anthropodizee“ zugrunde?

Nach ihrem Charakter (Zeitpunkt, Art der Niederschrift, Bestimmung, Art der Archivierung durch den Autor) lassen sich die Materialien in drei Teile einteilen. Den ersten Teil bildet das eigenhändig niedergeschriebene Manuskript Florenskijs für die Vorlesungsreihe, also im eigentlichen Sinne das, was im Mai-Juni 1918 in Moskau vorgetragen wurde. Diese Aufzeichnungen erfolgten auf Heftseiten, die in sieben unterschiedlich umfangreichen Heften gebunden sind. Die ursprüngliche Bezeichnung der Vorlesungsreihe („Skizzen zur Philosophie des Kults. Konspekt der in Moskau gehaltenen Vorlesungen“) hat Florenskij bei der ersten Korrekturlesung leicht abgeändert zu „Skizzen der Philosophie des Kults. Konspekt der in Moskau im Mai und Juni 1918 gehaltenen Vorlesungen“. Diese Vorlesungsreihe verwahrte Florenskij in einer gesonderten Mappe, die er „Priester Pavel Florenskij. Anthropodizee. Entwürfe und Materialien. P.F.“ beschriftete.

Die Vorlesungen I „Gottesfurcht“ (1.-4. Mai 1918), II „Kult, Religion und Kultur“ (5. und 7. Mai 1918) und III „Kult und Philosophie“ (11., 12. und 14. Mai 1918) haben eine gemeinsame Nummerierung der Abschnitte (1 – 46, danach ohne Abschnittsnummerierung) sowie der Textseiten (68 Seiten), wobei aus irgendwelchen Gründen 6 Seiten am Beginn der Lektion II nicht nummeriert sind.

Bei der Vorlesung „Sakramente und Riten“ (12. und 14. Mai 1918) fehlt die Nummer (IV), die Stelle für deren Eintragung ist frei gelassen. Diese Vorlesung hat eine eigene Abschnittsnummerierung (1 – 8) und eigene Seitenzählung (23 Seiten).

Die Vorlesungen V „Sieben Sakramente“ (19. und 20. Mai 1918) und VI „Züge der Phänomenologie des Kults“ (21. Mai 1918) haben jeweils eine eigene Abschnittsnummerierung (Vorlesung V: von 1 bis 16, Vorlesung VI: von 1 bis 11), jedoch eine gemeinsame Seitenzählung (49 Seiten). Zur Vorlesung V („Sieben Sakramente“) hat Florenskij den Text „Deduktion der sieben Sakramente“ (24.-25. und 29. Dezember 1919, 12 Seiten) beigelegt, den man als Anlage betrachten kann. Zur Vorlesung VI „Züge der Phänomenologie des Kults“ ergänzte Florenskij den ebenfalls als Anlage zu verstehenden Abschnitt „Das Menologion“ (20.-21. Mai 1920, 4 nicht nummerierte Seiten).

Vorlesung VII „Die Heiligung der Realität“ (31. Mai, 1.-2. Juni 1918) hat ihre eigene Seitennummerierung (45 Seiten), die Abschnitte sind von 1 bis 10 nummeriert, danach nicht mehr fortlaufend und schließlich gar nicht mehr.

Die Vorlesung VIII „Das Gebet“ (2. Juni 1918) hat eine Seitennummerierung von 1 bis 13, danach bricht der Text etwa bei der Hälfte ab. Die Abschnitte sind von 1 bis 7 nummeriert. Dies alles zeugt davon, dass die „Skizzen der Philosophie des Kults“ von Florenskij als ein Ganzes konzipiert waren, er jedoch die Herstellung einer einheitlichen äußeren Form nicht zu Ende geführt hat.

Eben die genannten acht Vorlesungen hielt Florenskij in Moskau im Gymnasium des Lehrerverbands in der 2. Il’inskij-Seitenstraße, in der Nähe der Christus-Erlöser-Kathedrale am Ostoženka-Prospekt, vom 8. Mai bis 6. Juni 1918. Vergleicht man die Daten der Niederschriften der Vorlesungen mit den Terminen aus dem Plan vom 26. April 1918 (8., 15., 16., 22., 23., 28., 29. Mai sowie 5. und 6. Juni), kann vermutet werden, dass die Vorlesungstermine 28. und 29. Mai (Montag und Dienstag) entfielen, schließlich lagen sie in der letzten Osterwoche, vor Himmelfahrt. Bereits in der Planung vom 26. April 1918 hatte ja die Möglichkeit, Vorlesungen in dieser Woche zu halten, Zweifel hervorgerufen, und zu einer Korrektur der ursprünglichen Termine von 29./30. Mai auf 28./29. Mai geführt.

Dieser gesamte Vorlesungszyklus enthält geringfügige handschriftliche Korrekturen Florenskijs mit Bleistift und Tinte.

Der zweite Teil der Quellen für den Zyklus „Philosophie des Kults“ ist mit der weiteren Arbeit Florenskijs an dem ursprünglichen Text verbunden:

  1. In die Heftseiten legte Florenskij viele Einfügungen, Literaturauszüge und Quellenangaben. Einige davon fügten sich organisch in den Text der später gefertigten Schreibmaschinenkopie ein, andere blieben handschriftliche Zusätze.
  2. Florenskij schrieb eine Reihe neuer, ausformulierter Texte, die teils als Anlage zu den eigentlichen Vorlesungstexten betrachtet werden können („Die Deduktion der sieben Sakramente“ vom 24. – 29. Dezember 1919, „Das Menologion“[18] vom 20./21. Mai 1920), teils eigenständige Bedeutung haben („Die Zeugen“ vom 20./22. Mai 1920).
  3. Ein Großteil der Vorlesungen Florenskijs liegt als Schreibmaschinenabschrift vor, die eine eigenständige Edition unter der Bezeichnung „Lesungen über den Kult“ mit dem Untertitel „Skizzen der Philosophie des Kults (Entwürfe der im Mai und Juni 1918 in Moskau gehaltenen Vorlesungen)“ darstellt.

Da der Text dieser maschinengeschriebenen Ausgabe von Florenskij mit Ergänzungen und Korrekturen versehen und in einer getrennten Mappe aufbewahrt wurde, entstand der Eindruck, dass gerade diese Edition dem „letzten Willen“ des Verfassers entspricht. Ein aufmerksamer Vergleich mit dessen handgeschriebenen Texten zwingt jedoch dazu, von dieser naheliegenden Schlussfolgerung wieder Abstand zu nehmen.

Was nun wurde wie in diese Maschinenabschrift aufgenommen?

Die ersten drei Vorlesungen („Gottesfurcht“, „Kult, Religion und Kultur“, „Kult und Philosophie“) mit ihrer durchgängigen Seiten- und Abschnittsnummerierung wurden von der Schreibkraft (Frau Butjagina?, Frau Ognevaja?) unmittelbar von der Handschrift Florenskijs abgetippt. Dabei wurden durch die Schreibkraft unverständliche Worte rot markiert und entweder später noch eingefügt, oder es blieb eine Lücke – wahrscheinlich in Abhängigkeit davon, inwieweit die Möglichkeit bestand, sich dazu mit Florenskij zu konsultieren.

Auch die vierte Lektion „Sakramente und Riten“, die ja eine eigene Seiten- und Abschnittsnummerierung aufweist, wurde von der Schreibkraft in gleicher Weise wie die vorhergehenden zu Papier gebracht, jedoch nur zur Hälfte. Alles, was zur zweiten Vorlesungsstunde gehört, sowie das nachträglich entstandene Vorwort zu dieser Vorlesung blieben unberücksichtigt. Der Text der Vorlesungen I bis III sowie IV (zur Hälfte) sind einheitlich nummeriert, die Seiten von 1 bis 106 und die Abschnitte von 1 bis 48.

Die Vorlesungen V und VI („Sieben Sakramente“, „Züge der Phänomenologie des Kults“) wurden nicht in die Schreibmaschinenabschrift aufgenommen, dafür der Text „Deduktion der sieben Sakramente“ vom 24. – 29. Dezember 1919. Ab hier ändert sich die Art der Übertragung des handschriftlichen Exemplars von Florenskij in die Maschinenschrift. Florenskij begann, der Schreibkraft seinen Text zu diktieren, was in einigen Fällen dazu führte, dass er eine abweichende mündliche Textfassung diktierte, und den Text mit Anmerkungen und Literaturauszügen ergänzte, die zeitlich erst nach Niederschrift der Vorlesungen entstanden sind. So entstanden der Text „Die Deduktion der sieben Sakramente“ (S. 1 – 9) und der erste Teil der Lektion VII „Die Heiligung der Realität“ (S. 1 – 10, Abschnitt 1 – 9).

Eigentümlich dafür, wie Florenskij der Schreibmaschinenkraft (und später der Schönschreibkraft S. I. Ognevaja) seine Texte diktierte, war es, dass er die fertig diktierten Seiten in seiner Handschrift mit Bleistift durchstrich.

Es ist nicht bekannt, wann Florenskij diese Texte diktiert hat, man kann aber vermuten, dass dies Ende 1921 – Anfang 1922 erfolgte. Diese Vermutung lässt sich damit begründen, dass sich in den weiteren Texten, welche Florenskij in späterer Folge S. I. Ognevaja diktiert hat, von ihr und Florenskij selbst notierte Angaben dazu finden, an welchem Datum das Diktat erfolgte. Den 2. Teil der Vorlesung VII „Die Heiligung der Realität“ diktierte Florenskij demnach in der Zeit vom 16. April bis 4. Juni 1922, den Text „Die Zeugen“ (vom 20./22. Mai 1920) in der Zeit vom 5. bis 17. Juni 1922, und die Vorlesung VIII „Das Gebet“ (vom 2. Juni 1918), welche die Bezeichnung „Geistiger Dienst“ erhielt, mit „Das Gebet“ als Untertitel, vom 28. August bis 17. September 1922. Die handschriftlichen Texte S. I. Ognevajas wurden im Anschluss von ihr selbst oder einem Dritten mit Maschine abgeschrieben. Sowohl in dieser Maschinenabschrift als auch in der Handschrift hat Florenskij Korrekturen und Ergänzungen eingefügt, die allerdings manchmal nicht nur zu seinem eigenen Manuskript nicht passen, sondern auch zwischen den verschiedenen Schreibmaschinenexemplaren abweichen. Wie auch beim Zyklus „An den Wasserscheiden des Denkens“ gibt es also für „Die Philosophie des Kults“ kein einziggültiges, autorisiertes Exemplar, daher wird in den Anmerkungen auf die wichtigsten Differenzen hingewiesen.

Wie bereits weiter oben bemerkt, gibt es Abweichungen zwischen Florenskijs eigenhändigen Texten und denen, die er der Maschinenschreiberin („Die Deduktion der sieben Sakramente“, Teil 1 der Vorlesung VII „Die Heiligung der Realität“) bzw. der Schönschreibkraft S. I. Ognevaja (Teil 2 der Vorlesung VII sowie „Die Zeugen“ und „Geistiger Dienst. Gebet“) diktiert hat. Besonders gravierend sind diese Unterschiede zwischen dem Manuskript zu Teil 2 der Vorlesung VII „Die Heiligung der Realität“ und der Diktatniederschrift von Frau Ognevaja, die 1977 unter dem vorläufigen Titel „Die Philosophie des Kults“ veröffentlicht wurde. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die äußeren Gestaltungsmerkmale belegen, dass es sich bei diesem Text um die Fortsetzung (den Teil 2) der Vorlesung VII handelt. Wo das Schreibmaschinenexemplar des Teils 1 dieser Vorlesung auf Seite 10 mit Abschnitt 9 endet, beginnt die Handschrift S. I. Ognevajas mit der Seitenzahl 11 und Abschnitt 10. Die weiteren Seiten sind fortlaufend mit 12, 13, 14 bis 195 nummeriert, die Abschnittszählung geht mit einigen Sprüngen weiter bis 38. Ganz offensichtlich hatte Florenskij anfangs nicht vorhergesehen, dass dieser 2. Teil der Vorlesung VII solchen Umfang annehmen würde. Deshalb könnte man bei Erstellung der Abschrift darauf gekommen sein, diesen Teil der Vorlesung VII als eigenständige Arbeit anzusehen und entsprechend zu nummerieren (S. 1 bis 106, die Abschnittsnummerierung ist wieder lückenhaft). Sowohl in der Handschrift von Ognevaja als auch im Maschinenexemplar findet sich jedoch keinerlei Titel für den 2. Teil von Vorlesung VII.

Alle oben aufgeführten Texte, soweit sie von Florenskij in eine Schreibmaschinenfassung überführt worden sind, wurden erstmals im Jahr 1977 im Sammelband „Theologische Werke [Bogoslovskie trudy]“ Nr. 17 (Verlag des Moskauer Patriarchats, in Moskau veröffentlicht) in folgender Reihe:

  1. Die Gottesfurcht (S. 87 – 101)
  2. Kult, Religion und Kultur (S. 101 – 119)
  3. Kult und Philosophie (S. 119 – 135)
  4. Sakramente und Riten (1. Teil, S. 135 – 142)
  5. Die Deduktion der sieben Sakramente (S. 143 – 147)
  6. Die Heiligung der Realität (1. Teil, S. 147 – 156)
  7. Die Zeugen (S. 156 – 172)
  8. Geistiger Dienst. Das Gebet (S. 172 – 195)
  9. Die Philosophie des Kults (d.h. Teil 2 der Vorlesung „Die Heiligung der Realität“, S. 195 – 248)

Aufgrund der Zensurforderungen seitens des Rats für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR wurde „Skizzen der Philosophie des Kults“ als Gesamttitel gestrichen und der Zyklus unter der redaktionellen Bezeichnung „Aus dem theologischen Erbe“ veröffentlicht. Das „Vorwort der Redaktion“ wurde von A. S. Trubačev verfasst und enthält charakteristische Einschübe des Erzpriesters Anatolij Prosvirnin (später Erzabt Innokentij, †12. Juli 1944), die es dem Leser ermöglichen sollten, den wahren Titel des Werks zu erraten, ihn gleichzeitig aber über den Ort im Unklaren zu lassen, an dem sich die Manuskripte befinden:

Nach Mitteilung von Prof. Erzpriester Ioann Kozlov (†10. September 1971), bei dem diese Unterlagen gefunden wurden (derzeit befinden sie sich in der Moskauer Geistlichen Akademie), hat Pavel Florenskij so [mit „Philosophie des Kults“] bereits seine Vorlesungen an der Moskauer Geistlichen Akademie (1908 – 1919) bezeichnet. (S. 85)

So zeigte man dann einem der neugierigen Leser, O. I. Genisaretskij, als dieser sich mit der Bitte um Einsicht in die angeblich dort verwahrten Originale an die Akademie wandte, eine aktuelle Maschinenabschrift, die erst aufgrund seiner Anfrage der Bibliothek überlassen worden war. Solcherart Zeitumstände entschuldigen zwar nicht die Unzulänglichkeiten der Ausgabe von 1977, liefern aber eine Erklärung dafür.

Den Publizisten (d.h. Erzpriester Anatolij Prosvirnin und A. S. Trubačev) war zu jener Zeit das eigenhändige Manuskript Florenskijs nicht bekannt, so dass weder der vollständige Textumfang ermittelt, noch die Maschinentexte mit den Handschriften des Autors abgeglichen werden konnten. Eine Reihe von Textstellen wurde aufgrund äußerer, nicht von den Publizisten abhängiger Bedingungen der Zensur vom Druck ausgeschlossen. Auch die begleitenden Materialien, wie einzelne Notizen Florenskijs sowie von ihm gesammelte Zitierungen und bibliografische Angaben, blieben bei der Veröffentlichung 1977 völlig unberücksichtigt. Dies führte zu einer recht großen Zahl an sachlichen und Druckfehlern. Wie auch die Veröffentlichung von „Die Ikonostase“ von 1972, hält die Publikation der „Philosophie des Kults“ von 1977 heutigen Kenntnissen über Florenskij und den im letzten Jahrzehnt geformten Prinzipien bei der Herausgabe seiner Texte nicht mehr stand. Zu ihrer Zeit erfüllte sie jedoch eine herausragende Aufgabe: die Gesellschaft nach 70 Jahren erneut mit den grundlegenden philosophischen Ideen Florenskijs bekannt zu machen.

Für die Herausgeber der aktuellen Werkausgabe Florenskijs ergab sich folgerichtig eine Reihe von Fragen:

  1. Warum fehlten in den „Vorlesungen über den Kult“ der Teil 2 der Vorlesung IV „Sakramente und Riten“, die Vorlesung V „Die sieben Sakramente“ sowie die Vorlesung VI „Züge der Phänomenologie des Kults“?
  2. Wo sind die von Florenskij nach 1918 verfassten Texte „Die Deduktion der sieben Sakramente“, „Das Menologion“ und „Die Zeugen“ einzuordnen?
  3. Darf man die Handschrift „Skizzen der Philosophie des Kults“ von 1918 und den Schreibmaschinentext „Lesungen über den Kult“ von 1922 als zwei getrennte Werke betrachten, oder handelt es sich hier um die Fortschreibung ein und des gleichen Werks?

Wenn das Fehlen der Vorlesungen IV (Teil 2), V und VI im Maschinentext grundsätzlichen Charakter hätte, und wenn die nach 1918 entstandenen Texte mit der Reihe der Vorlesungen nicht zusammenhingen bzw. als Ersatz für die nicht maschinengeschriebenen Vorlesungen verfasst wären, dann müsste man die Vorlesungsreihe „Skizzen der Philosophie des Kults“ von 1918 und die „Vorlesungen über den Kult“ von 1922  für getrennte Werke erachten, und sie unabhängig voneinander veröffentlichen. Es wäre dann erforderlich, die Anordnung der einzelnen Teile zu bestimmen und der Veröffentlichung jeweils die letzte Fassung zugrunde zu legen, völlig unabhängig davon, ob sie hand- oder maschinenschriftlich bewahrt worden sind.

Die gründliche Auseinandersetzung mit dem Erbe Florenskijs hat uns zu der Überzeugung geführt, dass die „Skizzen der Philosophie des Kults“ und die „Vorlesungen über den Kult“ ein einheitliches Werk darstellen. Ergänzend zu den bisherigen Ausführungen sei darauf verwiesen, dass bis auf unbedeutende stilistische Korrekturen alle anderen Unterschiede, wie groß sie zwischen hand- und maschinenschriftlicher Fassung auch sein mögen (was besonders den 2. Teil der Vorlesung VII „Die Heiligung der Realität“ betrifft), in ihrer absolut überwiegenden Mehrheit durch zusätzliches Material in der maschinengeschriebenen Fassung zustande kommen. Diese Fassung umfasst alles aus der handschriftlichen Version, jedoch auch vieles Weitere. Dagegen gibt es in der Handschriftfassung nichts, was nicht auch die Schreibmaschinenfassung enthielte. Man kann ein weiteres Beispiel aus dem Nachlass Florenskijs anführen. Die Monographie „Analyse von räumlicher Ausdehnung und Zeit in Werken der darstellenden Kunst [Analiz prostranstvennosti i vremeni v chudožestvenno-izobrazitel’nych proizvedenijach]“ (1924) schrieb Florenskij im Nachgang zur Vorlesungsreihe „Analyse der Perspektive“ am VChuTeMas[19] (1923/24) und als deren Weiterführung. Dies sind jedoch unterschiedliche Werke, die nur der Untersuchungsgegenstand verbindet, und daher wurden sie auch getrennt veröffentlicht.

Eine eigenständige Veröffentlichung des Textes der acht Vorlesungen Florenskijs von 1918 könnte in einer akademischen Werkausgabe unter der Fragestellung von Nutzen sein, was genau damals seine Studenten zu Gehör bekamen – wobei man allerdings nicht sicher sein kann, dass alles im Jahr 1918 Geschriebene auch vorgetragen wurde, denn teilweise ist der Umfang der Aufzeichnungen für zwei Vorlesungsstunden zu groß.

Da die Nummerierung der Abschnitte sowohl im Manuskript als auch in den handschriftlichen Texten von Frau Ognevaja und dem Schreibmaschinenexemplar uneinheitlich ist, wurde eine eigenständige Abschnittsnummerierung für jedes Kapitel gewählt, wobei aber die originale Abschnittseinteilung beibehalten worden ist.

Der dritte Teil der Materialien für den Zyklus der „Philosophie des Kults“ fand sich in der Mappe von Florenskijs Vorlesungsmanuskript aus 1918. Wie bereits dargestellt, hatte Vater Pavel auf der Mappe vermerkt: „Priester Pavel Florenskij. Anthropodizee. Entwürfe und Materialien. P. F.“ Dabei handelt es sich um Material im Umfang von etwa 650 handschriftlichen Seiten, welches Vater Pavel über einen langen Zeitraum (von 1908 bis 1924) für den Zyklus „Anthropodizee. Philosophie des Kults“ angesammelt hatte. Die Art dieses Materials zeigt, dass Vater Pavel durch die Vorlesungen in Moskau 1918 erst dazu angeregt wurde, seine in vielen Jahren angehäuften und bewusstgemachten Beobachtungen zum orthodoxen Kult zu systematisieren und zu verallgemeinern.

Dieses Material umfasst vom Autor datierte Notizen – manchmal zusammenhanglos, manchmal eigentümliche, vollendete Miniaturen; weiterhin ins Unreine geschriebene Aufzeichnungen von Gedanken auf Notizzetteln, von denen einige später ins Reine geschrieben wurden (danach strich Florenskij den Entwurf durch), dazu teils kommentierte Quellenauszüge und Zeitungsausschnitte. Einige Unterlagen hat Florenskij mit Klammern zusammengeheftet. Bei der Sichtung dieses Materials, auch des zusammengehefteten, erwies sich jedoch, dass es sich in der großen Mehrzahl nicht um Materialien zu einem speziellen Einzelthema handelt, sondern dass sich alles auf den Zyklus „Anthropodizee“ insgesamt bezieht, weshalb es auch in dieser Mappe aufbewahrt wurde. Nur durch die Auftrennung und anschließende Zuordnung zu den Einzelthemen der Vorlesungen ließ sich dieses Material nutzbar machen.

Aus diesen Materialien heben sich einige von Florenskij selbst zu bestimmten Themen in Einlegemappen sortierte Päckchen heraus: „SIN“, „Eucharistie. Materialien. P. Florenskij“, „Orthodoxie und russisches Volkstum und Autokratie“. Das hier enthaltene Material ist in vorliegender Veröffentlichung jeweils en bloc an den inhaltlich entsprechenden Stellen zugeordnet (die des Verfassers in den Anlagen, die übrigen in den Endnoten)[20].

Den Großteil dieser Materialien hat Florenskij jedoch datiert, was die Möglichkeit eröffnete, alle datierten Aufzeichnungen des Verfassers in chronologischer Folge zu ordnen. So entstand ein eigenständiger Buchteil unter dem Titel, den Florenskij für die gesamte Mappe verwendet hat: „Anthropodizee. Entwürfe und Materialien“[21].

Obwohl die „Philosophie des Kults“ aus recht eigenständigen Kapiteln besteht, die nicht durch die Folgerichtigkeit der Darlegung verbunden sind, sondern durch das gemeinsame Thema und eine feinsinnige Verflechtung der Teilaspekte, bildet der gesamte Inhalt des Werks ein durchdachtes und wohlgeordnetes Ganzes.

Die Thematik des orthodoxen Kults und Gottesdienstes setzt das Hauptthema des Werkes „Säule und Fundament der Wahrheit (Versuch einer orthodoxen Theodizee)“ fort und vertieft es. Das vorliegende Werk untersucht den orthodoxen Kult als einen lebendigen Organismus, bei dem alles mit allem verwoben ist und bei dem sich alles ineinander widerspiegelt. Der orthodoxe Kult befindet sich von seinem Aufbau her in Übereinstimmung mit der Struktur des Menschen selbst als Gottes Abbild, sein Ziel ist es, das Irdische und das Himmlische zu vereinigen, den Menschen vom Niederen zum Höchsten zu erheben. Mittelpunkt des orthodoxen Kults ist das Sakrament der Eucharistie (die Kommunion des Heiligen Leibes und Blutes Christi). Der Gottesdienst ist Grundlage und Quell alles sonstigen menschlichen Schaffens: der Weltanschauung (Philosophie und Wissenschaft), der Wirtschaft, der Kunst. Abhängig vom Grad ihrer Ablösung und Entfernung vom Kult verweltlicht sich dieses Schaffen und wird blutleer, verliert seine Allgemeingültigkeit und lehnt sich nicht nur gegen Gott auf, sondern auch gegen den Menschen.

Eine umfassende objektive Bewertung der Schrift von Vater Pavel ist nur möglich, wenn zwei Bedingungen beachtet werden. Das Werk muss einerseits im geschichtlichen Kontext jener Zeit betrachtet werden, andererseits unter Berücksichtigung der Besonderheiten im Schaffen von Vater Pavel selbst.

Was die erste genannte Randbedingung betrifft, muss daran erinnert werden, welch unterschiedliche Phänomene zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der russischen Kirche und Gesellschaft in Erscheinung traten: einerseits Heilige wie Johannes von Kronstadt und die Optina- Altväter, andererseits Lev Tolstoj und die Renovatoren; Verfechter der Autokratie, aber auch Priester-Sozialisten; eine Schicht tiefgläubiger Philosophen, Wissenschaftler und Politiker, aber auch Vertreter des sogenannten neuen religiösen Bewusstseins, welche die „historische“ Kirche ablehnten und Okkultismus propagierten, sowie die Theosophie; es gab den Klerus und das gläubige Volk, deren größerem Teil in der Folge der Weg des Martyriums beschieden war, aber es begann auch ein aggressiver Atheismus im Volksbewusstsein Fuß zu fassen, der dem Gottesdienst und den Kirchen nicht mehr nur gleichgültig gegenüberstand, sondern bei erster Gelegenheit auch zu deren Zerstörung bereitstand.

Was sind Kirchengebäude, die Heiligtümer dort und der Gottesdienst? Veraltete Kulturformen, die nur „für die Großmütter“ noch von Wert sind? Magische Handlungen? Eine Täuschung des Volkes, geistliches Opium? Ein ästhetisches Phänomen? Vater Pavel hat all diese Fragen beantwortet und die grundlegende Notwendigkeit und Erlösungskraft des orthodoxen Kults für den Menschen zu einer Zeit erwiesen, als die Verfolgung der Kirche bereits begonnen hatte, das Blut der ersten Neu-Martyrer schon vergossen war, die Plünderung von Kircheneigentum ihren Anfang nahm. Der Thronverzicht des russischen Herrschers Nikolaj II. lag bereits anderthalb Jahre zurück, nur noch zwei Monate waren bis zu seinem Martyrium und dem der ganzen Zarenfamilie verblieben. Ein geschärftes geistliches Verantwortungsgefühl und ein ungewöhnlicher Mut bewegten Vater Pavel dazu, in der „Philosophie des Kults“ die kirchliche Lehre über die kaiserliche Macht und den Kaiser als Gesalbten darzulegen. Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass dies alles nicht nur geschrieben, sondern unweit des Kremls offen ausgesprochen wurde, so kann man in diesen Vorlesungen Vater Pavel einem Bekenner gleichsetzen.

Tabelle zur zeitlichen Entstehung der Vorlesungen zur „Philosophie des Kults“:

Skizzen der Philosophie des Kults. Konspekt der in Moskau gehaltenen Vorlesungen. Zeitpunkt der Niederschrift durch FlorenskijZeitpunkt, zu dem Florenskij die Vorlesung hielt„Lesungen über den Kult“ Zeitpunkt der Übertragung der Vorlesungen in die Reinschrift von Ognevaja bzw. die Schreibmaschinen-fassung
I. Die Gottesfurcht
1. – 4. Mai 1918
Dienstag, 8. Mai 1918, Gedächtnis des Apostels Johannes des Theologen1922 (?) eigenständig durch die Maschinen-Schreibkraft
II. Kult, Religion und Kultur
5. und 7. Mai 1918
Mittwoch, 9. Mai 19181922 (?) eigenständig durch die Maschinen-Schreibkraft
III. Kult und Philosophie
11., 12. und 14. Mai 1918
Dienstag. 15. Mai 19181922 (?) eigenständig durch die Maschinen-Schreibkraft
IV. Sakramente und Riten
12. und 14. Mai 1918
Mittwoch, 16. Mai 19181922
(bis zur Mitte) eigenständig durch die Maschinen-Schreibkraft
V. Die sieben Sakramente
19. – 20. Mai 1918
Dienstag, 22. Mai 1918
VI. Züge der Phänomenologie des Kults
21. Mai 1918
Mittwoch, 23. Mai 1918
VII. Die Heiligung der Realität (einschl. Teil 2, sogenannt „Die Philosophie des Kults“)
31. Mai – 2. Juni 1918
Dienstag, 5. Juni 1918Teil 1:
Florenskij diktiert der Maschinen-Schreibkraft
Teil 2:
16. April – 4. Juni 1922
Florenskij diktiert
Frau Ognevaja
VIII. Das Gebet (Geistiger Dienst)
2. Juni 1918
Mittwoch, 6. Juni 191828. August – 17. September 1922 Florenskij diktiert
Frau Ognevaja
 „Die Deduktion der sieben Sakramente“
(Anlage zu Vorlesung V)
24. – 29. Dezember 1919
1922 (?)
Florenskij diktiert der Maschinen-Schreibkraft
„Das Menologion“
(Anlage zu Vorlesung VI)
20. – 21. Mai 1920
„Die Zeugen“
20. und 22. Mai 1920
5. – 17. Juni 1922
Florenskij diktiert
Frau Ognevaja

Am Montag und Dienstag, 28./29. Mai 1918 vermutlich keine Vorlesung,
am Mittwoch Fest des Osterabschieds, Donnerstag Himmelfahrt des Herrn.

In Bezug auf die zweite Randbedingung, d.h. die Besonderheiten des Schaffens von Vater Pavel selbst, ist zu berücksichtigen, dass es der christlichen Apologetik und Religionsphilosophie zuzuordnen ist, jedoch nicht der Theologie, wenn man unter Letzterem die dogmatische Lehre der Kirche versteht. Zweifellos müssen auch Apologetik und religiöse Philosophie in der dogmatischen Lehre der Kirche verwurzelt sein, wenn sie sich anschicken, den orthodoxen Glauben zu offenbaren. So aber, wie auch ein Portrait im Vergleich zu einer Ikone seine eigenen künstlerischen Gesetzmäßigkeiten, Techniken und Ausdrucksmittel hat, besitzt ein religiös-philosophisches Werk Besonderheiten in der Offenlegung der Wahrheit, die sich nicht auf dogmatische Formeln zurückführen lassen. Entsprechend kann auch die Terminologie der Religionsphilosophie nicht identisch zum Wortschatz der dogmatischen Theologie sein, sondern stellt ein eigenes System, eine eigene Sprache dar. Das Denken von Vater Pavel bildet eine besondere Sprache heraus, die durch Verwendung von theologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und technischen Begriffen geprägt ist. In einer Reihe von Fällen wird dabei der Begriff in seiner gewohnten und direkten Bedeutung verwendet, in anderen Fällen werden Begriffe erweitert. Beispielsweise hat nach der Erstveröffentlichung einzelner Kapitel von „Philosophie des Kults“ (1977 in der Zeitschrift „Bogoslovskye trudy“) jene Stelle viel Widerspruch hervorgerufen, an der Vater Pavel sagt: „Das Kreuz ist also ein lebendes, vernünftiges, bewusstes, geistliches Wesen, das unsere Gebete hören und sie erwidern kann“ (S. 71). Zur Erläuterung dieser Stelle merkte Priestermönch Andronik an: „Das Kreuz ist ein lebendiges Wesen infolge der Anwesenheit der lebendigen und lebensschaffenden Energie des Herrn Jesus Christus.“[22] An anderer Stelle schreibt Vater Pavel: „Das Ehrwürdige Kreuz [kann] mit dem Herrn sogar gleichgesetzt werden, wegen der Einheit der Göttlichen Hypostase des Herrn… Hieraus wird verständlich, warum in der frühchristlichen Ikonografie das Antlitz des Herrn gewöhnlich als Kreuz dargestellt wurde“ (S. 61). Es ist offensichtlich, dass im ersten Fall das Kreuz unter philosophischen Aspekten, im zweiten dagegen aus theologischer Sicht betrachtet wird. Dabei ist die philosophische Betrachtung des Kreuzes als eines intuitiv erfahrbaren geistigen Wesens eingebettet in einen natur- „magischen“, mystisch-mythologischen, theurgischen und realistischen Symbolismus. Gleicher Art beschreibt Vater Pavel das Schwert als im Besitz von Merkmalen eines geistlichen Wesens, mit einem festgelegten ontologischen Platz in der theokratischen Ordnung, fast schon einem eigenen Rang“ (S. 485), den Altartisch als „verborgenen Cherub“ (S. 482), die Gewalten (Wasser usw.) und Stoffe (Brot, Honig, Korn usw.) als durch Empfang des Segens geheiligt (vgl. „Die Heiligung der Realität“, S. 384 ff.), das Wort als „lebendig und vernünftig“[23].

Der hier vorliegende Typus philosophischer Reflexion richtet sich vorrangig gegen ein wissenschaftlich-empirisches und rationalistisches Erkennen von Kirche, Mensch und Natur (Welt). Im Kontext des Denkens von Vater Pavel steht ein solcher Typus des Philosophierens nicht im Widerspruch zu segenhafte kirchlicher Theologie, sondern begleitet diese als eine einführende Stufe.

Grundlage für Vater Pavels Begriffsbestimmungen sind nicht rationalistische, pseudotheologische Konstruktionen, sondern lebendige religiöse Erfahrung und der Segen seiner Priesterschaft. Als Mystizität kann man seine Fähigkeit bezeichnen, im Irdischen das Himmlische zu sehen, im Vergänglichen das Unvergängliche, im Zeitlichen das Ewige, im Sichtbaren das Unsichtbare, im „Körperlichen“ das „Beseelte“, im Niederen das Höchste, teilhaftig zu sein am Geheimnis der Vereinigung von Geist und Fleisch, das aus dem Dogma der Menschwerdung Gottes entspringt. Es ist wesenhaft, dass die mystischen Intuitionen von Vater Pavel, die er als Bekenntnis in diesem Werk festgehalten hat, durch die Erfahrung der orthodoxen Asketen bestätigt werden.

So beispielsweise in den Erzählungen über einen zeitgenössischen Altvater, den Schemamönch Erzabt Vitalij (1928 – 1. Dezember 1992). Dort erinnert sich Erzabt Platon Igumnov:

Im Gedächtnis geblieben ist seine Ermahnung, welches Verhältnis dem Altar Gottes gegenüber notwendig ist. Er sprach davon, dass dieser etwas Lebendiges, Beseeltes ist, und man ihn wie einen lebendigen Leib berühren muss. Der Altartisch in der Kirche ist der Leib Christi[24].

Wie der heilige Serafim von Sarov, so schrieb auch Vater Vitalij einer Kerze, die für jemanden vor einem Heiligenbild entzündet wurde, eine besondere Bedeutung zu. Große glatte Wachskerzen, die er selbst anfertigte, standen auf besonderen eisernen Ständern und Bögen. In seinem Zimmer verlöschten sie niemals. Selbst in der größten Hitze, wenn der Rauch des Feuers das Atmen schwermachte, erlaubte er es nicht, sie zu löschen. Oft schrieb er in Briefen: „Für euch alle beten die Kerzen.“ Und nicht selten rettete die Kraft der brennenden Kerze in der Zelle des Altvaters Menschen vor tödlicher Gefahr. An der Kerze konnte Vater Vitalij die seelische Verfassung eines Menschen ablesen: ob sie ruhig und gerade brennt, oder ob sie flackert. Wenn aber, was vorkam, die Flamme im Luftzug verlöschte, verstärkte der Altvater sein Gebet für diesen Menschen.[25]

Der Tradition der russischen Religionsphilosophie folgend, verband Vater Pavel Florenskij den geistlichen Ursprung der Weiblichkeit mit der Verehrung der dritten Hypostase, dem Heiligen Geist, der die Allheilige Jungfrau Maria gesegnet hatte, während er den geistlichen Ursprung des Männlichen der Verehrung der zweiten Hypostase, des Wortes Gottes, des Logos, zuordnete. Die Verehrung des Heiligen Geistes war auch verbunden mit schöpferischer Eingebung und Kunstschaffen, die Verehrung des Logos dagegen mit der Sinnhaftigkeit und der Vernünftigkeit wissenschaftlicher Tätigkeit. Jedoch hatte schon wesentlich früher der Erzpriester Aleksandr Gorskij, Rektor der Moskauer geistlichen Akademie, die Konzeption des heiligen Gregor von Nazianz weiterentwickelt, der zufolge im Alten Testament vorzugsweise die Hypostase des Gottvaters wirkt (offenbar wird), in der Inkarnation die Hypostase des Gottessohns, nach dem Pfingstereignis dagegen die Hypostase des Heiligen Geistes[26]. Es gibt wohl eine Verwandtschaft dieser Konzeption des Gregor von Nazianz und des Priesters Aleksandr Gorskij mit den Konzepten von Vater Pavel Florenskij, der die Kiewer Rus‘ mit dem Beginn göttlicher Empfänglichkeit der Welt und mit der Verehrung der Gottesgebärerin als Gefäß des Heiligen Geistes und als künstlerisches Symbol der Sophia-Weisheit, als der Himmlischen Künstlerin verband, die Moskauer und Petersburger Rus‘ dagegen mit dem Beginn göttlicher Inkarnation und Formgebung, mit der Verehrung des Erlösers Christus und dem künstlerischen Symbol der Allheiligen Dreiheit (siehe seinen Aufsatz „Das Sergius-Dreifaltigkeitskloster und Russland“[27]). Gewiss kann man darüber streiten, inwieweit solche philosophischen und historiosophischen Konzepte zulässig sind, wo doch das Wesenseine der Allheiligen Dreiheit sich darin ausdrückt, dass alle drei Hypostasen in ihrem Willen und ihrem Handeln eins sind, da der Ewigseiende Überirdische und Überweltliche Gott nicht in seinen verschiedenen Hypostasen als Ursprung des Männlichen oder des Weiblichen, der Inspiration oder der Vernunft erscheint. Man kann auch feststellen, dass der Lauf der Zeit diese Konzepte nicht rechtfertigt hat, und dass diese die orthodoxe Philosophie nicht der dogmatischen Lehre der Kirche angenähert haben, sondern jene eher von ihr entfernten. Wenn aber im Teil V „Die sieben Sakramente“ Vater Pavel schreibt:

Der Grad der Wahrnehmung Seiner [des Heiligen Geistes] Person ist in verschiedenen Situationen unterschiedlich, angefangen von einer unbestimmten und vagen Hoffnung und Freude über den Herrn, bis hin zu Empfindung des Hypostatischen dieser „weiblichen Hypostase der Gottheit“. (S. 301)

– so ist es völlig offensichtlich, dass er nicht die Theologie „revolutioniert“, indem er einen weiblichen und männlichen Ursprung in die Gottheit hineinträgt, sondern lediglich nicht sehr treffend die immer gleiche Konzeption der besonderen Verehrung der Allheiligen Jungfrau und Gottesgebärerin, der Zweiten Eva, als Gebenedeite Empfängerin des Heiligen Geistes ausdrückt.

Das Einzigartige an Vater Pavels Werk besteht darin, dass er erstmals den orthodoxen Kult und die Sakramente aus einem religiös-philosophischen Blickwinkel beleuchtet. Gewöhnlich wurden die Sakramente unter dem Aspekt ihrer praktischen Ausübung (als praktische Anleitung für die Priester) betrachtet, oder aus der Sicht ihrer geschichtlichen Entwicklung (Historische Liturgik). Seltener schon erfolgte eine Betrachtung aus dogmatischem Blickwinkel. Doch jede dieser Betrachtungen richtete sich an die Mitglieder innerhalb der Kirche. Das prinzipiell Neue in Vater Pavels Werk ist, dass er sich in hohem Maße an diejenigen wendet, die der Kirche fernstehen, dass er also apologetische und missionarische Ziele setzt. Daher ist auch die Kritik Pavel Florenskijs an Okkultismus und Spiritismus außerordentlich wichtig, denn gewöhnlich sind bei aller gerechtfertigten und harten Kritik dieser Erscheinungen die angeführten Argumente zumeist nur für die Mitglieder innerhalb der Kirche überzeugend. Zur Überzeugung Fehlgeleiteter ist ein solches Herangehen oft nicht zielführend, und erst die bitteren Folgen können solche Menschen dazu bewegen, von Okkultismus und Spiritismus abzulassen. Vater Pavel kritisiert Okkultismus auf solche Weise, dass er nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch außerhalb Gehör findet. Sein Wort stützt sich, ohne dabei Kirchlichkeit zu verlieren, auf Gründe, die vielleicht weniger für die Kirche bedeutungsvoll sind, dafür aber für die Außenwelt überzeugend, um deren Bekehrung zur Kirche willen.

Andererseits wurden hier erstmals in der philosophischen und religionsphilosophischen Literatur Fragen der Ontologie, Gnoseologie, Psychologie, Psychiatrie, des künstlerischen Schaffens, der Ökologie usw. basierend auf dem Wissen über orthodoxen Kult, Gottesdienst und Sakramente untersucht.

Im Unterschied zu den vorherigen Werken verwendet Vater Pavel ein Minimum an Zitaten und Quellen aus der philosophischen Literatur. Welch Reichtum dagegen an Material aus der Heiligen Schrift, dem Euchologion[28] in verschiedensten Ausgaben, dem Fasten- und Blumentriodion, den Gottesdienst- und Lesemenäen, dem Priesterlichen und dem Bischöflichen Hieratikon, dem Buch der Gebetsgesänge, sowie aus verschiedenen Gottesdienstordnungen und liturgischer Forschung! Dies alles ist Stoff, der bislang noch nie in der Philosophie Berücksichtigung fand, und der Mehrheit der heutigen Philosophen auch nicht bekannt ist.

Ein drittes herausragendes Merkmal der Arbeit von Vater Pavel bildet die von ihm aufgeworfene Frage relativer Gotteserkenntnis im Heidentum und des Verhältnisses von Heiden- und Christentum. Theologisch steht Vater Pavel in der Tradition der Heiligen Justin deR Martyrer, Serafim von Sarov und Theophanes deR Klausner, welcher unter anderem in Auslegung des Pauluswortes „denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen [den Heiden] offenbar; Gott hat es ihnen offenbart“ (Röm 1,19) schrieb:

Die Heiden wussten über Gott und göttliche Dinge nicht nur aus dem in ihren Seelen Versiegelten heraus, sondern auch daraus, was durch Gott später besonders offenbart, und in der Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurde.[29]

Und obwohl dies in der Theologie eine durchaus traditionelle Ansicht ist, stellte ihre Anwendung auf die Religionswissenschaft durch Florenskij etwas Neues dar: Nicht sei im Christentum nach heidnischen, angeblich einen „Doppelglauben“ beweisenden Elementen zu suchen, sondern im vorchristlichen Heidentum sei zu erkennen, wie es vom aufstrahlenden Licht des in Ewigkeit Kommenden, des im Paradies dem gefallenen Adam verheißenen Christus erhellt wird. Leider ist die Religionswissenschaft nicht den von Florenskij vorbezeichneten Weg gegangen, sondern in entgegengesetzter Richtung – und deshalb tritt sie auch auf der Stelle.

Abschließend sei noch ein weiteres, das Werk Florenskijs heraushebendes Merkmal genannt – der anthropologische Ansatz in Bezug auf die Soteriologie. Er zeigt, dass die Kirche dem Menschen gerade das anbietet, was dieser sucht, jedoch durch seinen Impuls zur Selbstläuterung nicht erreicht, er deckt die menschlichen (psychophysiologischen, sozialen, historischen und anderen) Wurzeln des gottmenschlichen religiösen Handelns auf und bezeugt, dass die Orthodoxie alles Beste und Notwendige in sich enthält, was die Menschheit auf ihrem religiösen Weg errungen hat.

Für Florenskij bilden die Aussagen „Das Christentum ist Resultat und Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit und deshalb die erste unter allen anderen Religionen“ und „Alle übrigen Religionen sind falsch im Vergleich zur in Christus sichtbar gewordenen, gottoffenbarten Wahrheit, und deshalb ist das Christentum das Einzige, was verdient Religion genannt zu werden“ eine antinomische Einheit.

Dies alles führte zu einem überaus eigenartigen und einzigartigen Werk, das in seiner Bedeutung dem Buch „Säule und Fundament der Wahrheit“ in nichts nachsteht. Wie die „Säule…“ öffnete auch die „Philosophie des Kults“ für eine ganze Generation eine Tür zur Kirche. Im Gegensatz zur „Säule…“, die 1914 erstmals herausgegeben wurde und dann ihr „Eigenleben“ entwickelte, wurden die Vorlesungen zur „Philosophie des Kults“ zum Gegenstand von Erinnerungen. Die vorliegende Publikation des vollständigen Textes der „Philosophie des Kults“ verhilft diesem Werk nun wieder zu neuem Leben.

Den Mitarbeitern des Pavel-Florenskij-Museums sowie des Ökofood-Unternehmens OAO „Diod“ mit seinem Generaldirektor V. P. Tichonov danke ich herzlich für die Unterstützung bei der Vorbereitung der Herausgabe dieses Buches.

Hegumen Andronik (Trubačev)


[1] Florenskij, Pavel: Dogmatismus und Dogmatik [Dogmatizm i dogmatika], in: WA 1, 551

[2] Aus einem Brief an V. A. Koževnikov vom 27. Juli 1912; in: Trubačev, Andronik, Archimandrit: Theodizee und Anthropodizee im Werk von Priester Pavel Florenskij, Tomsk 1998, S. 10

[3] Florenskij, Pavel: Vernunft und Dialektik [Razum i dialektika] (Eröffnungsrede vor der Verteidigung der Magisterarbeit „Über die geistliche Wahrheit“ (Moskau 1912) gehalten am 19. Mai 1914), in: WA 2, S. 133 f.

[4] Instrumenta, Sacra, Notiones (siehe Vorlesung II

[5] Im Februar 1918 wurde in Russland der gregorianische Kalender eingeführt, der dem bis dahin üblichen julianischen Kalender um 13 Tage vorausgeht. Der Brief wurde also nach heutigem Kalender am 2. Mai verfasst. Im Nachfolgenden entsprechen alle Kalenderangaben den Originaldokumenten, also dem julianischen Kalenderstil.

[6] An dieser Stelle ist handschriftlich eingefügt: Für das letzte Kapitel (zur Orientierung in der Philosophie)

[7] Es sind einige Notizen Florenskijs mit dieser Bezeichnung erhalten wie folgt:
 „Rätsel über Verflechtungen“, Titel eines Artikels über Tolpygin etc. Dies sind keine ethischen […],              sondern ontologische. Ethik ist ontologisch.
 „Geistlicher Zerfall und der Fels des Glaubens“, „Orthodoxe Rundschau [Pravoslavnoje obozrenije]“, Bd. 12, 1863, S. 213 [Über die Eucharistie. N.B.) für die „Rätsel über Verflechtungen“

[8] Über diesem Punkt ist handschriftlich eingefügt: „Zwei Blickwinkel. Heilige Sache, und umgekehrt.“

[9] Über diesem Punkt ist handschriftlich eingefügt: „Zeit und Phänomen. Raum und Phänomen…“

[10] Über diesem Wort ist handschriftlich vermerkt: „der Realität“

[11] Anschließende handschriftliche Notiz: „Deduktion der Zahl Sieben.“

[12] Die Worte „und Welt“ sind von Hand durchgestrichen.

[13] handschriftlich korrigiert auf „28., 29.“

[14] in: Vozroždenie, Nr. 6/1918, S. 15

[15] Fudel‘, Sergej Iosifovič: Über Vr. Pavel Florenskij [Ob otce Pavle Florenskom], in: o.A.: Pavel Aleksandrovič Florenskij – Pro et contra, Sankt Petersburg 2001, S. 97

[16] ebenda, S. 102

[17] Anredeform russischer orthodoxer Bischöfe

[18] Eine kurze Begriffserklärung zu den in der Ostkirche verwendeten liturgischen Büchern und Begriffen befindet sich am Ende des Buches, online HIER.

[19] russ., Abkürzung für „Höhere künstlerisch-technische Werkstätten“, die Moskauer Kunsthochschule

[20] Dies bezieht sich auf die russische Ausgabe.

[21] Dieser in der deutschen Ausgabe nicht aufgenommene Anhang stellt eine Sammlung von Notizen und Quellenauszügen dar, weitgehend in ähnlicher Stichpunktform wie die Anlagen zu den einzelnen Vorlesungen im vorliegenden Band. Inhaltlich zum großen Teil parallel, verdeutlicht er vorrangig die Chronologie der Erarbeitung des Materials durch Florenskij. 

[22] Trubačev, Andronik, Archimandrit: Theodizee und Anthropodizee im Werk von Priester Pavel Florenskij, a.a.O., S. 103

[23] Vergl.: Florenskij, Pavel: Der Wortbau [Stroenie slova], in:  WA 3(1), S. 216

[24] o. V.: Über das Leben des Schema-Erzabts Vitalij [O žizni schiarchimandrita Vitalija], Moskau 2002, S. 83

[25] ebenda, S. 110

[26] Vergl.: Florenskij, Pavel: PGW, S. 134 – 136

[27] Florenskij, Pavel, WA 2, S. 352 – 369

[28] Am Ende dieser deutschen Ausgabe findet sich eine kurze Erläuterung der hier genannten liturgischen Bücher, wie auch einiger wiederkehrender liturgischer Begriffe.

[29] Hl. Feofan der Klausner (Govorov): Exegese. Der Brief des Hl. Apostel Paulus an die Römer [Tolkovanie. Poslanie sv. Apostola Pavla k Rimljanam], 2. Auflage, Moskau 1890, S. 89