Die Philosophie des Kults (1918)

Allgemeine Informationen

Uns steht die Beschäftigung mit Dingen bevor, die entweder überhaupt nicht untersucht sind, oder aber unter völlig anderen Blickwinkeln und -richtungen, als wir sie ins Auge fassen, die vor allem anderen Zielen dienten als unseren. Wir werden alles neu tun müssen…

Erster Entwurf der Einleitung zu den Vorlesungen, P. Florenskij

Mit „Säule und Sockel der Wahrheit[1] hatte Priester Pavel Florenskij ein Werk vorgelegt, das er als „Theodizee“ bezeichnete, als „Rechtfertigung Gottes“. Seine Auffassung von Theodizee entsprach dabei keineswegs der Lehrmeinung. Seine „Theodizee“ ist eine Art Theorie, wie der Mensch Gott finden kann. Das zweite Moment der Philosophie Florenskijs ist die „Anthropodizee“:

die „Rechtfertigung des Menschen“, das Herabsteigen Gottes zum Menschen, die „Praxis“ des Glaubens.

Nach Beendigung der „Säule“ beschäftigte sich Florenskij im weitesten Sinne stets mit der „Anthropodizee“. Konkret formuliert jedoch hat er sie in der „Philosophie des Kults“.

Florenskij schrieb dazu:

Anthropodizee und Theodizee! Dies sind die beiden Momente, welche die Religion bilden, denn Grundlage der Religion ist die Erlösung des Menschen, die Idee der Vergöttlichung des ganzen menschlichen Wesens. Das erste dieser Momente ist vorzüglich das Sakrament[2], das Mysterium, also das reale Herabkommen Gottes zur Menschheit, die Selbstentäußerung Gottes bzw. Kenosis […], eine Selbstentäußerung, die den Menschen vor dem Angesicht Gottes rechtfertigt …

der geplante und in Teilen entworfene zweite Teil der ‚Säule‘, mit anderem Titel, die zweite Hälfte der μάθησις, d. h. die Anthropodizee, über Mysterien und Sakramente, über die Gnade und Gottesinkarnation in allen Formen und Arten.

Die „Philosophie des Kults“ ist ein gewagter Versuch des gläubigen Denkens, den Gottesdienst als das zentrale Wesenselement von Kirchlichkeit zu erfassen – oft dem Okkultismus gefährlich nahe und von einer dem Christlichen scheinbar übermäßigen Mystizität geprägt. Wahrhaftig scheint die „Philosophie des Kults“ an manchen Stellen nicht von einem Christen verfasst zu sein, sondern von einem Neoplatoniker, der esoterische Rituale interpretiert.

Und doch ist Florenskij einer der ersten neuzeitlichen Denker, die sich den liturgischen Schätzen der Kirche zugewendet haben, dem Herzblut der Kirche selbst also. Das Sakrament ist der Mittelpunkt, in dem sich die Gemeinde der Gläubigen real mit Gott verbindet, in dem die erhoffte Verklärung bereits Wirklichkeit ist.

Ungeachtet aller gefahrvollen Wendungen in Florenskijs Denken ist die „Philosophie des Kults“ ein großartiger Versuch, uns die lebendige und flammende Realität des Gottesdienstes nahezubringen, wo das Himmlische zum Irdischen herabsteigt und der lebendige Gott unter den Gläubigen präsent ist.

Über diese furchteinflößende, brennende Natur des Kults und der Gottespräsenz schreibt Florenskij:

Gottesfurcht… Oft hört man (wie es scheint, eher ironisch), sie sei „der Anfang der Weisheit“. Wenige jedoch haben sich Gedanken über die unausweichliche Wahrheit dieser Worte gemacht, die dem Spruch der Philosophen, das Staunen sei der Anfang der Philosophie, so verwandt sind. Um Erkenntnis zu haben, muss man das Objekt der Erkenntnis berührt haben. Anzeichen dafür, dass diese Berührung stattgefunden hat, ist die Erschütterung der Seele, die Furcht. Ja, solche Furcht wird in der Berührung mit etwas Neuem erregt, etwas gänzlich Neuem, welches unserem alltäglichen Leben entgegensteht. In die Reihe unserer Eindrücke von der Welt drängt Außer-Weltliches, mit nichts Vergleichbares, zu nichts Ähnliches, Anderes. Und, einmal eingedrungen, zerreißt es das Gewebe des Gewöhnlichen, und damit auch unser dem Gewohnten verhaftetes Bewusstsein. Wie ein zweischneidiges Schwert dringt es vor bis zur Trennlinie von Seele und Geist, bis zu jener Naht, an der sich letztlich unser noumenaler Kern mit der Sphäre der Phänomene, Manifestationen und weltlichen Infiltrationen berührt. Dorthin vorgedrungen, brennt es sich in unser Ich: Aus dem Zeitlichen haben wir das Zeitlose geschaut.

Ach, man fragt sich doch auch nicht, wenn einem mit glühendem Eisen die Schleimhaut verödet wird, ob man das will oder nicht, ob es gefällt oder nicht – es ist einem nicht nach Psychologismen zumute. „Es ist wahrhaftig so, existenziell“, sagt der Behandelte. Doch dieses „ist“ kommt ganz von selbst über die Lippen, ohne Nachdenken wird es ausgestoßen. Und so ist auch die Gottesfurcht. Wenn wir wahrhaftig – nicht gekünstelt und affektiert – die Gottheit wahrnehmen, dann ist uns nicht nach sentimentalen Ergüssen. Dann rufen wir aus tiefstem Herzen, von großer Furcht bebend: „Du bist – wahrhaftig“. Das Erste, was das Orakel von Delphi den Betenden sagen ließ, war „Εἶ “ – Du bist. Aber „Du bist“ sagt sich nicht leicht dahin, man spricht es nicht ohne Erschütterung.

Aus der 1. Vorlesung

[1] auch: „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ [Stolp i utverždenie istiny], Moskau 1914

[2] Innerhalb der Orthodoxie findet die Bezeichnung Mysterium Verwendung, wodurch das russische tajnstvo („das Geheimnisvolle“) bzw. griechische mysterion besser wiedergegeben wird. Vorliegende Übersetzung verwendet den im deutschen Sprachraum üblichen Ausdruck Sakrament.