Anna
Aus: Pawel Florenski: Namen [Imena], 1923-1926 (in: An den Wasserscheiden des Denkens, Bd. 2, Teil 6)
In „Namen“ fasst Florenski zusammen, was ihn als Symbolisten seit der Studienzeit umtrieb: die Wirkmacht des Namens einer Person auf ihr Selbst, die Wirkmacht von Namen überhaupt (Nimm einem Menschen den Namen, und er verliert seine Eigenschaft, Individuum zu sein), die in der Verehrung des Namens Gottes („Geheiligt werde Dein Name“, „Alles, was ihr in Meinem Namen bittet …“) gipfelt. Im Anhang zu der Schrift analysiert F. einige häufige Namen hinsichtlich ihrer mystisch-symbolischen Bedeutung für das Schicksal ihres Trägers. Ein Beispiel (leicht gekürzt):
Bei Anna ist die Hauptsache ihr unterbewusster Boden, der meistens nicht auf einem Felsen liegt, sondern auf solchen Untergrundschichten, durch die der Träger dieses Namens in die Tiefen des Daseins geht. Diese Tiefen aber sind, entsprechend der höchsten Aufgabe des Namens, die Tiefen der Gnade, wie die etymologische Bedeutung des Namens sagt. Wenn die Perönlichkeit deren höchste Ebene nicht erreicht, erhält sie (dennoch) durch die elementare Basis der Natur einen Zufluss wohltuender Kräfte. – Sie kann folglich diese elementar-mystischen Energien aufsaugen und sie, diese Begleiter/Vermittler der Gnade, vielleicht sogar mit der Gnade selbst vermischen. Auf den niederen Ebenen werden letztlich vorrangig diese elementar-mystischen Prinzipien – die Seele der Welt – assimiliert, jedoch stets in den Farben der Gnade, d. h. wahrgnommen in deren Form.
Anna erscheint das Spontane nie nur als spontan, denn es ist immer mystisch. Existentielle Energien erscheinen in Annas Bewusstsein nicht losgelöst von ihren tiefsten Fundamenten, oberflächlich und autark, und werden daher nie nach dem Positiven bewertet. Wie bereits erwähnt, liegt der Grund dafür in der Untrennbarkeit der unteren Schichten des Unterbewusstseins mit der Weltumwelt: Anna hat eine direkte Verbindung zu den unterirdischen Wassern, und jede Schwankung ihres Wasserspiegels und jede Veränderung ihrer Zusammensetzung spiegelt sich in ihr, in ihrer Selbstwahrnehmung wider. In diesem Sinne kann man sogar sagen, dass Anna von der Seite ihresUnterbewusstseins her keine bestimmte Form hat und mit der Weltseele verschmilzt.
Deshalb ist Anna dazu prädestiniert, abzuweichen: entweder in die Richtung des geistigen Abtrennens des gesamten Unterbewusstseins von sich selbst, d. h. von der bewussten Persönlichkeit, einschließlich ihres Eigenen, als ihr nicht eigen – oder aber dadurch, dass sie das ganze Leben der Weltseele an sich selbst anheftet, als ihr persönliches Eigentum.
Es ist jedoch leicht zu erkennen, dass beides gleichermaßen zur Loslösung von allem führt, was dem Unterbewusstsein innewohnt. Oder aber dieses erhält einen eigentümlichen Anstrich von Sinnlichkeit nur insoweit, als es durch die Grenzen der Persönlichkeit begrenzt und an sie gebunden, dem übrigen Sein entgegengesetzt und folglich als selbstsüchtig, trennend und undurchdringlich verstanden wird.
In Annas Unterbewusstsein gibt es im Wesentlichen keine Subjektivität. Anna will nichts für sich und nichts Eigenes. Sie ist nicht leidenschaftlich, sondern fällt im Gegenteil von der Welt ab, d.h. die Seele gehört nicht zu ihr, da sie in ihrem Bewusstsein nichts hat, womit in der Welt Halt findet. Das Spontane, das sie nach ihrer Einschätzung empfindet, wird in ihr als objektiv, ja als äußerlich empfunden, das ihr gegeben ist, es sei denn, sie hat ihr Selbst in die Weltseele übertragen. Dann aber wird umso mehr ihr ganzes Unterbewußtsein, seines kosmischen Maßstabs wegen, von ihr nicht unter dem Gesichtspunkt einer kleinlichen und selbstsüchtigen individuellen Regung bewertet. So erhalten ihre inneren Bewegungen eine universelle Tragweite und universelle Bedeutung: Sie betrachtet ihre eigenen Bedürfnisse, d.h. ihre individuellen Bedürfnisse und Begierden aus einer solchen Entfernung, dass sie nur klein und unbedeutend erscheinen können.
Auf die eine oder andere Weise entpuppt sich das Ich, das kleine Selbst Annas, d.h. die bewusste Schicht der Persönlichkeit, als ein separates Unterbewusstsein, und daher wird ihre Persönlichkeit, reicher als viele andere, von ihr selbst und oft von vielen anderen als arm bewertet, selbst wenn sich dieser Reichtum an Persönlichkeit, ob richtig oder falsch, in einer Kreativität bemerkbar macht, die bereits offensichtlich und unbestreitbar ist, ja selbst wenn Anna diese sehr schätzt – im Falle der Vermischung des Gnadenhaften mit dem Elementaren womöglich sogar extrem hoch schätzt. Dennoch misst sie sich selbst, dem bewussten Selbst, wenig Wert bei, weil sie diese ihre Kreativität in das objektive Sein überträgt und sie als ein Geschenk, als eine Offenbarung, als eine Selbstmanifestation dieses objektiven Seins, nicht als ihre eigene Selbsttätigkeit betrachtet. Und folglich bereichert diese Kreativität, selbst diese, sie in ihren eigenen Augen nicht.
Man kann nicht sagen, dass der Intellekt in Anna nicht scharf sei, im Gegenteil, er besitzt diese Schärfe; aber wie er auch an sich sein mag, in ihrer Entwicklung sind ihm die tieferen Kräfte, die im Unterbewustsein wurzeln, weit überlegen. Die Vernunft kann mit ihnen nicht Schritt halten, will sich vielleicht auch gar nicht durch die beständige dazu nötige Eile ermüden, und behandelt daher die intuitive Tiefe der Persönlichkeit passiv, lässt sich von ihr mitziehen. Daher erhält er überhaupt kein systematisches Wachstum und gewöhnt sich nicht an, bewusst und selbstständig zu arbeiten. Ein solcher Geist neigt, vielleicht weil er so wenig gebraucht wir, dazu herabzusinken und sich aufzulösen; Es ist dies ratio ignava. Es ist natürlich, dass er naiv wird – zumindest so lange, wie es keinen äußeren Schock gibt, der Anna dazu zwingt, sich am Kopf zu fassen und ihre Untätigkeit zu überwinden. Deshalb ist Annas Kreativität nicht intellektueller Natur: Wo das Eingreifen des Verstandes erforderlich ist, zumindest bei der Bearbeitung, hat diese Kreativität ihre Schwachstellen. Intellektuelle Arbeit mag Anna nicht besonders. Sie läuft bereitwillig davon weg, und obwohl sie Unfähigkeit vorschiebt, fehlt es ihr in Wirklichkeit wesentlich am Vertrauen (auf den Intellekt): Die Einmischung des Verstandes, scheint ihr, wird die „reine Erfahrung“ ihrer Intuition verzerren, und daher erscheinen ihr der Plan, der Stil, ja sogar die Zeichensetzung als etwas Zweitrangiges, Erfundenes, Unaufrichtiges.
Da sie ein Wissen hat, das nicht aus dem Verstand stammt, und sie von diesem Wissen übersättigt ist, vernachlässigt sie den Intellekt, ihren Intellekt. Auf der anderen Seite sind die Tiefen der Natur zu unmittelbar für sie geöffnet, um ein Bedürfnis und ein akutes Bedürfnis nach Kunst zu haben, deren Hauptfunktion ja darin besteht, die positivistischen Schleier vom Sein zu entfernen und zum direkten Kontakt mit dessen Tiefen zu verhelfen. Was die Kunst gibt, ist Anna in gewissem Sinne schon viel tiefer und vollständiger bekannt, als es durch die Kunst erlangt werden kann; und außerdem erfordert der Gebrauch von Kunst die Entwicklung einer bewussten Selbstaktivität, einer Selbsterziehung, die Anna nicht nur deshalb vermeidet, weil sie nicht aktiv sein will, sondern auch, weil ihr die Selbsterziehung künstlich erscheint. Kunst ist ihr fremd. Besonders fremd ist derjenige Zweig derselben, der die größte vorläufige Selbständigkeit voraussetzt und die formloseste und mystischste Berührung mit dem Sein im Sinn hat: die Musik. Anna hat gerade von dem, was Musik geben kann, bereits im Überfluss, und das ohne Schwierigkeiten.
Folglich ist es die moralische Sphäre, die Annas Bewusstsein vorherrschend in Anspruch nimmt, d. h. gerade das, was in ihren Wahrnehmungen aus der Tiefe nicht vorkommt.