Sonstiges

Philosoph und Theologe in dunkler Zeit (Dr. Bernd Groth)

Grundzüge des religionsphilosophischen Denkens von Pavel Florenskij (1882-1937)

Ein Vortrag des Übersetzers von „Säule und Sockel der Wahrheit“, Herrn Dr. Bernd Groth, gehalten im August 2015 an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.


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Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde der russischen Religions­philosophie!

Im Juli 1998 begann der SWR eine Sendung über Pavel Florens­kij mit folgenden Worten: „Die Nachrichten über Russ­land können manchmal vergessen lassen, dass dort auch um den Erhalt der Kultur, um die Be­wahrung der spirituellen Tra­ditionen gerungen wird. Wer sich nach die­sem Erbe erkun­digt, wer danach fragt: »Wovon lebt das geistige Russ­land heu­te?«, wird auf den Namen Pavel Florenskij stoßen.“[1]

Beginnt man, sich mit Leben und Werk Pavel Florenskijs zu beschäfti­gen, stellt man überraschend fest, dass man es mit einer Persönlichkeit zu tun hat, die wie kaum eine andere, auf völlig gegensätzliche Beurtei­lung stößt. Auf der einen Seite begegnet man hymnischen Preisungen und Superlativen, wie „Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts“, über­aus gebildet und gelehrt, eine „Kultfigur“ für die einen; auf der anderen Seite eine skurrile danteske Person, die in der westlichen Wis­senschaft keine Resonanz gefunden habe wegen ihrer Fremd­artigkeit (in Bezug auf ihre östlich-orthodoxe Denktradition), wegen des Unzeitgemäßen ih­rer geistigen Einstellung (in Be­zug auf ein mittelalterlich-ganzheitliches Weltbild) und wegen der Gegenmoderne ihres Denkens (Antirationa­lis­mus), so nach Meinung von Michael Hagemeister. Florenskij provoziert gegen­sätzliche Reaktionen. Worin liegen die Gründe zu solchen gegen­sätzli­chen und widersprüchlichen Reaktionen? Meine Antwort: Es die für einen heutigen Leser extrem schwierige Lektüre seines philosophischen und theologischen Hauptwer­kes. Florenskij setzt bei seinem Leser eine enorme Bildung voraus, die sein Leserkreis von 1914, an den er sich wandte, noch besaß, die man bei einem modernen gebildeten Leser aber gewöhnlich nicht mehr voraussetzen kann. Damit hängt meines Er­achtens auch die von Michael Hagemeister diagnos­tizierte geringe Re­zeption seines Werkes zusammen.

In meinem Vortrag will ich die folgende These darlegen: Flo­renskijs Werk ist das einzigartige, repräsentative Bei­spiel für den Sym­bolismus  der russischen Philosophie, und zwar in deutlichem Un­terschied zu den meisten anderen russischen religiösen Philosophen. Ich habe bereits Gustav Wetters Definition der russischen Philosophie hier (in einem anderen Vortrag!) zitiert; ich will sie noch einmal wiederholen, dass nämlich seiner Über­zeugung nach „das russische Denken über weite Strecken eine Fortset­zung des griechischen Denkens mit modernem philosophischen Instru­mentarium darstellt und dass diese Herkunft ihm sein spezifisches Ge­präge verleiht…“.[2] Wetters Ausdruck „Fortsetzung des griechischen Den­kens“ umgreift nicht nur die platonische und aristotelische Philosophie, son­dern vor allem auch die hellenistische Philosophie und das Denken der griechischen Kirchenväter. Das moderne philoso­phische Instrumen­tarium beinhaltet nicht nur Kant, Fichte, Schelling, sondern auch die An­throposophie, Goethe und Wagner.

Bei der Erläuterung meiner These will ich die Aufmerksamkeit auf As­pek­te des Hauptwerkes Florenskijs richten, die ge­wöhnlich übersehen werden. Dies tue ich in vier Punkten:

  1. Eine philosophische und theolo­gische Existenz in dunkler Zeit.
  2. Die Philosophie des russischen Sym­bolismus als Verständ­nisvoraussetzung.
  3. Das Antinomieproblem der Wahrheit.
  4. „Erkenntnis wird Liebe“ (Gregorios von Nyssa).

Ich beginne sogleich mit meinem ersten Punkt:

Eine philosophische und theologische Existenz in dunkler Zeit

Die letzten Jahrzehnte des 19. und die ersten des 20. Jahr­hunderts be­deuten für Russland eine äußerst schwere Zeit. Wachsende soziale Pro­bleme, die der zaristische Staat nicht in den Griff bekommt, dann als ein erstes Wetterleuchten die Revolution von 1905, der Erste Weltkrieg führt zum Unter­gang der zaristischen Autokratie, die Oktoberrevolution und die Errichtung des leninschen Sowjetstaates, die zur stalin­schen Diktatur führt: Es ist die Lebenszeit von Florenskij.

Pavel Aleksandrovič Florenskij (1882-1937) ist Mathematiker, Physiker, Religionsphilosoph, Kunstwissenschaftler, Theologe, Dichter; vielen gilt er als das größte russische Universalgenie des 20. Jahrhunderts, als der Leonardo da Vinci des moder­nen Russlands. Er stammt aus dem Süd­kaukasus, dem heuti­gen Aserbaidschan, und ist der Älteste von sieben Geschwis­tern. Er promoviert in Mathematik und Physik an der Moskau­er Universität, verzichtet jedoch auf eine Universitätskarriere und beginnt ein Studium der Philosophie und Theologie an der Moskauer Theologi­schen Akademie in Sergiev Posad, das während der Sowjetzeit in Za­gorsk umbenannt wird. Er been­det seine Studien 1908, 1910 heiratet Anna Michailovna Gia­cintowa (1889-1973), aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor, und wird 1911 zum Priester in der Orthodoxen Kirche ge­weiht. Er knüpft Kontakte zu den russischen Symbolisten, in­teressiert sich für Kunst und schreibt Gedichte. Sein geistli­cher Leiter wird der Starez Isidor.

Florenskij beendet sein Theologiestudium mit einer Arbeit „Über die reli­giöse Wahrheit“, die zur Grundlage seines späte­ren Buches „Säule und Sockel der Wahrheit“ (1914) werden sollte. Er wird Dozent an der Geist­lichen Akademie in Sergiev Posad und hält Vorlesungen zur antiken Phi­losophie (Platon vor allem), zu Kant und zur Philosophie des Kults und der Kultur. Er wird Redakteur des Bogoslovskij vestnik [Theologi­scher Bote]. 1913 soll er während des Ritualmordprozesses gegen Mendel Beylis in Kiew die Ritualmordbeschuldigung ge­gen die Juden in anony­men Artikeln unterstützt haben. 1914 publiziert er sein philosophisch-theologisches Werk unter dem Titel „Säule und Sockel der Wahrheit“. Einen tiefen Einschnitt bedeutet die „Oktoberrevolution“. Der Sowjet­staat schließt die Geistliche Akademie in Sergiev Posad, Florenskij ver­liert seine Professur. Er entscheidet sich dafür, mit seiner Familie in Russ­land zu bleiben. Er wird in verschiedene staatliche Kommissionen berufen und arbeitet in verschiedenen Institu­tionen in wissenschaftlich-technischen Bereichen. Als Lenin 1922 120 Professoren und Künstler des Landes verweist, ist Florenskij nicht darunter. Seine wissenschaftlich-technische Kompetenz wird zum Aufbau der Sowjetunion gebraucht. Nach Lenins Tod 1924 beginnt der Kampf um seine Nachfolge, aus dem Stalin als Sieger hervorgeht und 1927 ist er der un­eingeschränkte Al­leinherrscher in der Sowjetunion. 1928 wird Florenskij verhaftet und für drei Monate nach Nižnyj Novgo­rod verbannt. 1933 erneute Verhaftung, Verhöre und Verur­teilung zu zehn Jahren Lagerhaft, die er u. a. auf den Solov­ki-Inseln im Weißen Meer verbringt. 1937 wird er zum Tod verur­teilt und in Levašovo, in der Nähe von Leningrad (heute wieder: St. Pe­tersburg), erschossen. 1958 erfolgt die postu­me Rehabilitation; aber erst 1989 wird seine Familie über das wahre Todesdatum informiert. Seit Beginn der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich eine Florenskij-Re­nais­sance in Russland feststellen.

Die Philosophie des russischen Symbolismus als Verständnis­voraussetzung

Martin Heidegger verweist in seiner kleinen Schrift „Was heißt Denken?“ auf einen bedeutsamen Umstand: „Jeder Denker denkt nur einen einzi­gen Gedanken. Auch dies unterscheidet das Denken wesentlich von den Wissenschaften“. Und er stellt betont fest: „Der Denker braucht nur einen einzigen Gedan­ken“ (S. 31). Was Heidegger hier vom Denker her­vorhebt, gilt auch von Florenskij. In seiner Autobiographie „An meine Kin­der“ schreibt er: „Ich bin immer Symbolist gewesen.“ Was er genau­er darunter versteht, beschreibt er ebenfalls: „Im Grun­de habe ich mein ganzes Leben lang über eines nachgedacht: über das Verhältnis von Er­scheinung und Noumen, über das Auffinden des Noumens in den Phäno­menen, seine Darstel­lung, seine Verkörperung. Es geht um die Frage nach dem Symbol. Mein ganzes Leben habe ich nur über dieses eine Problem nachgedacht, das Problem des SYMBOLS“ (S. 50). Die Kant­sche Trennung von Noumena und Phänomena habe er immer mit sei­nem ganzen Wesen abgelehnt, und zwar auch schon zu der Zeit, als er diese Begriffe noch gar nicht kannte. In dieser Hinsicht sei er immer Platoniker gewesen. Er schreibt weiter: „Aber die Erscheinung, zweiei­nig, geistig-stofflich, Symbol, war mir immer teuer in ihrer Unmittelbar­keit, in ihrer Konkretheit, mit ihrem Leib und mit ihrer Seele“ (S. 51). Diesen 5. Teil seiner Autobiographie mit dem Titel „Das Besondere“ schließt er ab mit einer Bemerkung zur Wis­senschaft: „An der Peripherie konnte ich hitzig und sogar fa­natisch die eine oder andere wissenschaft­liche Erklärung ver­teidigen, in meinem Herzen jedoch glaubte ich nicht an wis­senschaftliche Erklärungen, ich hielt sie für bedingt (was sie auch tatsächlich sind). Ich spürte, dass ich über das andere Weltverständnis, mein Weltverständnis, nicht laut sprechen durfte, und verbarg es als Ge­heimnis meiner Seele … Ich schi­en »Wissenschaftler« zu sein, wo ich doch zuinnerst »Magier« war (S.56/7). Mit dieser persönlichen Einstel­lung sind eine Reihe Verstehensschwierigkeiten verbunden, die vor allem auch von Stepun herausgestellte Ambivalenz des Symbolismus betrifft auch Florenskij: das Hin- und Hergerissensein zwischen Tradition und Moderne.

Nach Lubomir Zak ist die Idee des Symbols nicht irgendein be­liebiger Gedanke, sondern der Versuch, mit einem neuen begrifflichen „Instru­mentarium“ seine vielfältigen Intuitionen zusammenzufassen und aus­zudrücken: mathematisch-geo­me­trische Intuitionen (verbunden mit der Mengentheorie, der Idee des aktualen Unendlichen und der Idee der imagi­nären Größen in der Geometrie), philosophische Intuitionen (verbun­den mit der platonischen Ideenlehre und der Idee des hen kai polla), philo­sophisch-ästhetische Intuitionen (verbunden mit seinen Forschungen auf dem Gebiet der Ikonographie), philo­sophisch-linguistische Intuitio­nen (verbunden mit der Idee des Namens und der Theorie des Wortes), theologische Intui­tionen (verbunden mit der Lehre von der Vergöttli­chung). In diesem „Instrumentarium“ spiegelt sich also Florenskijs Aus­richtung auf eine „konkrete Metaphysik“ wider, eine Metaphy­sik, die es dem Menschen erlaubt, das Wirkliche mit einem Blick zu betrachten, der a realibus ad realiora schaut (Ivanov) und in der Konsequenz dessen Antinomizität in eins zu den­ken, besonders dessen fundamentalste Anti­nomien wie Un­endliches/Endliches, Absolutes/Relatives, Gott/Mensch.

In einer autobiographischen Skizze von 1924 für die Enzyklo­pädie des Russischen Bibliographischen Instituts GRANAT schreibt er:

„Seine Le­bensaufgabe begreift F. als die Fortset­zung der Wege zu einer zukünfti­gen ganzheitlichen Weltan­schauung. Für das Grundgesetz der Welt hält F. Das Prinzip der Thermodynamik, das das Gesetz der Entropie, der all­gemeinen Nivellierung (das Chaos). Der Welt entgegen steht das Gesetz der Ektropie (der Logos). Die Kultur ist der Kampf gegen die Nivellie­rung der Welt, den Tod. Die Kultur (von „Kult“) ist ein organisch verbun­denes System von Mitteln zur Verwirklichung und Aufdeckung eines Wertes, der als unbe­dingt angenommen wird und daher als Gegenstand eines Glaubens dient. Der Glaube bestimmt den Kult und der Kult das Weltverständnis, aus dem weiter die Kultur folgt…“

Das Antinomieproblem der Wahrheit

Florenskij war zweifelsohne ein Vielschreiber. 1918 entsteht sogar der Plan einer Publikation seiner Schriften in 19 Bän­den. Der Plan wird aller­dings nie verwirklicht. Wenn man aber nach dem Kern seines Denkens fragt, wird man an „Stolp i ut­verždenie istiny [Säule und Sockel der Wahrheit = Stolp]“ von 1914 verwiesen. Nicht umsonst gilt es als sein philosophi­sches und theologisches Hauptwerk. Es ruft sofort heftige Re­aktionen hervor, die von starker Bewunderung bis zu vernich­tender Kri­tik reichen.

Der Titel verweist auf 1 Tim 3,15, wo die Gemeinde (ekklesía) des le­bendigen Gottes als „Säule und Sockel der Wahrheit“ (stýlos kai he­draíoma tes aletheías) bezeichnet wird. Der Un­tertitel lautet: „Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen“.[3] Wie vieles an diesem Werk wegen seiner Eigenart missverständlich und irritierend ist, so auch dieser Untertitel. Florenskij versteht „Theodizee“ nicht im Leibnitzschen Sinn als die Rechtfertigung (der Güte) Gottes angesichts der Übel in der Welt. Es geht ihm vielmehr um die Rechtfertigung der göttlichen WAHR­HEIT[4] angesichts der Sünde, der Gottlosig­keit, in der Welt. Zu dieser WAHRHEIT hat man Zugang durch die Erfahrung der orthodoxen „Kirch­lichkeit“. Die Theodizee, als der theoretische Weg des Nachdenkens, vollzieht sich praktisch durch die Erfahrung von Kirchlichkeit. Diese Kirch­lichkeit ist nach Florenskij „das neue Leben, das Leben  im Geist“ (Stolp 7). Das Kriterium für die Richtigkeit dieses neu­en Lebens im Geist ist die Schönheit. Dies erinnert an Dosto­jevskijs Motto „Mir spasjët krasotá“ [Schönheit rettet/erlöst die Welt]. Wer die orthodoxe Kirchlich­keit verstehen will, ist nach Florenskij auf die Erfahrung als den einzigen Weg ange­wiesen. „Die Orthodoxie wird gezeigt, nicht bewiesen“ (Stolp 8). Und diese Kirchlichkeit manifestiert sich ideell im Leben der Asketen und der Starzen der ostkirchlichen Traditionen. Im Grunde entwirft Flo­renskij eine Apologie der orthodoxen Kirchlichkeit, deren Wesen in der Erfahrung und im Erleben des spirituellen und liturgischen Lebens besteht und sich in den großen Gestalten (Asketen, Starzen) dieses Le­bens manifestiert.

Die meisten Interpreten betrachten Florenskij als einen Philo­sophen und seinen Stolp als ein philosophisches Werk. Natür­lich ist das nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Das Grundmotiv ist theologisch, auch wenn viele Quellen, aus denen Florenskij schöpft, der abendländi­schen Philosophie angehören (Platon, Aristoteles, Cusanus, Kant, Schel­ling u.a.). Nach eigener Auskunft orientiert er sich an Athanasios dem Großen (ca. 295-373).

„Das Dogma von der Wesensein­heit der Trinität, die Idee der Vergöttlichung des Fleisches, die Forderung des Asketen­tums, die Hoffnung auf den Geist des Parakleten und die Anerkennung der präexistenten, unver­gänglichen Bedeutung der Schöpfung – das sind die Leitmoti­ve des dogmatischen Systems des Athanasios, die so eng miteinander verwoben sind, dass man keines wahrnehmen kann, ohne darin alle übrigen zu entdecken. Auf diesen Grundmotiven ist auch das ganze vor­liegende Buch aufge­baut, so dass man in der Tat sagen kann, dass es von den Ideen des hl. Athanasios des Großen aus­geht.“

(Stolp 349/50)

Gustav A. Wetter meint, dass es für das russische Bewusstsein charakteristisch ist, „wenn P. Florénskij die rus­sische Philo­sophie und überhaupt das von der Ortho­doxen Kirche des Ostens ge­prägte Denken als eine Philoso­phie der »Homousie«, der Wesens­einheit, dem westlichen Denken (er hat hier wohl den zu seiner Zeit vor­herr­schen­den Neukan­tia­nismus vor Augen) als einer Philosophie der »Ho­möusie«, der Wesensähnlichkeit, entgegenstellt. Das dem Identi­täts­prinzip verhaftete westliche Denken bleibt eine Phi­losophie des Ver­standes, es kann höchstens die Ähnlichkeit zweier Wesen er­fassen, während das östliche Denken auf der Überwindung des Identitätsprin­zips beruht und als Vernunft­denken die We­senseinheit als Grundlage jeder Art von Viel­einheit zu denken vermag.“[5] Florenskijs philosophi­sches und theologisches Den­ken ist zutiefst vom Gedanken der Homou­sie geprägt.

Dieser Gedanke steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Florenskijs Religionsbegriff. In seinem Einführungswort bei der Verteidi­gung seiner Masterarbeit „Über die geistliche Wahr­heit“ hatte er die Religion als „Meisterin der Rettung“ bezeichnet, ihre Sa­che sei es zu retten. „Sie er­rettet uns von uns selbst“, Sie macht uns – darauf läuft das Ganze hin­aus – zur wirklichen Liebe erst fähig. Die Religion ist Rettung, weil sie „das Leben von uns in Gott und Gottes in uns. Für Floren­s­kij ergeben sich daraus zwei Fragen:

  1. „Wel­che Ge­dan­ken­gänge muss meine Ver­nunft durchschreiten, um die Rettungs­fähig­keit einer gegebenen Religi­on anzuer­kennen?“, und
  2. „In welcher realen Umwelt muss ich verkeh­ren und in welche Verbindung mit ihr muss ich eintreten, um mir die Ret­tung zueigen zu machen?“

Bei der ersten Fragen prüfen wir gleich­sam Gott mit unserer Rationalität und finden her­aus, dass er wirklich Gott ist, nämlich der Retter, die wirk­liche Wahrheit. Bei der zweiten Fra­gen dagegen handelt es sich dar­um, uns selbst zu prüfen. Wir entde­cken uns selbst als die „Lüge“, als die Unwahrheit, und dass wir folglich läute­rungs­bedürftig sind. Florenskij konzipiert zwei Wege von Reli­gion:

  1. den Weg der Rechtfertigung der göttlichen Wahrheit nennt er Theodi­zee, es ist ein Weg des Aufstiegs (der Gnade in uns zu Gott);
  2. den Weg der Rechtfertigung des Menschen nennt er Anthropodizee, es ist ein Weg des Abstiegs der Gna­de in unser Inneres.

Sein Buch behandelt den ersten Weg, also die Theodizee, als einen vorwiegend theoretischen Weg. „Dieser Weg beginnt im Rahmen der Ratio und geht dann aber über die Grenzen der Ratio hinaus, zu ihren Wurzeln“.

Darum kann Florenskij auch als Antwort auf die Frage „Worin besteht also das Heil/Rettung?“ die Antwort geben: „Das Heil/die Rettung be­steht in der Konsubstantialität (Wesens­einheit) mit der Kirche“ (Stolp 343). Dies will Florenskij in seinem Werk „zeigen“. Darum ist es auch nicht systematisch aufgebaut, sondern Florenskij hat als genus litterari­um, wie der Untertitel deutlich macht, die Briefform gewählt: „weil ich behaupten fürchte und fragen vorziehe“ (Stolp 134). Die Überschriften der insgesamt zwölf Briefe lauten folgenderma­ßen:

  1. „Zwei Welten“ [Dva míra],
  2. „Zweifel“ [Somnénie],
  3. „Dreieinigkeit“ [Trijedínstvo],
  4. „Licht der Wahrheit“ [Svet Ístiny],
  5. „Paraklet“ [Utéšitel’],
  6. „Wider­spruch“ [Protivor­éčie],
  7. „Sünde“ [Grech],
  8. „Gehenna“ [Gejénna],
  9. „Schöpfung“ [Tvar’],
  10. „Sophia“ [Sofíja],
  11. „Freundschaft“ [Drúžba] und
  12. „Eifersucht“ [Révnost’].

Ein Vorwort „An den Leser“ und ein „Nachwort“ rahmen das Ganze ein. Eine systematische Abfolge der ein­zelnen Briefe scheint es auf den ersten Blick nicht zu gebe. Und doch gibt es eine ganz be­stimmte Systematik. Darauf verweist der Satz des Gregorios von Nyssa „He de gnósis agápe gínetai – Erkenntnis aber wird Liebe“, der dem Buch als Motto vorangestellt ist. Die einzel­nen Briefe stellen die thematischen Knotenpunkte der theolo­gischen Reflexion Flo­renskijs dar.[6]

Mit seiner Theodizee meint Florenskij ja einen Denk- bzw. Erkennt­nisprozess, der von der antinomischen Wahrheit beginnt und zur ho­mousianischen WAHRHEIT führt. Dabei macht der Mensch einen Trans­formationsprozess durch, den Florenskij als Transsubstantiation ver­steht, der den Menschen aus seinem Egoismus, seiner ei­genmächtigen Selbstbefangenheit (Florenskij nennt sie „Sün­de“, vgl. den siebten Brief) heraus­führt und zur Liebe (elfter und zwölfter Brief) befähigt. Der Mensch, sozusagen als auf­richtiger Wahrheitssuchender, fin­det die WAHRHEIT in der Kir­che als der „Säule der Wahrheit“:

„Die Säule der Wahrheit ist die Kirche, die Glaubwürdigkeit, der geistige Satz von der Identität, die Askese, die Dreihypo­statische Einheit, das Taborlicht, der Hl. Geist, die Keuschheit [Herzensreinheit], die Sophia, die allerheiligste Jungfrau Maria, die Freundschaft – und nochmals die Kirche.“

(Stolp 489)

Auf der Suche nach einer letz­ten Begründung von Erkenntnis sieht sich Florenskij einer fundamentalen Aporie des Denkens (Stolp 34) gegen­über: Im Rahmen seines ontologischen Symbolismus zeigt er, dass die rationalistische Wahrheit eine Antinomie (A ist A/A ist nicht A, Endlich­keit/Unendlichkeit, Gott/Mensch) ist. Die antinomische Strukturiertheit der Wahrheit macht den Kernpunkt des Skeptizismus eines Pyrrhon und des modernen Rationalismus aus;[7] das Antinomieproblem ergibt sich aber ontologisch aus dem Fragmentcharakter des Seins selbst (Stolp 160 und vgl. 483). „Für den Verstand ist die Wahrheit ein Widerspruch, und dieser Widerspruch wird manifest, sobald dieWahrheit eine worthafte Formulierung erhält. […] Die Wahrheit ist eine Antinomie und kann nur eine solche sein“ (Stolp 147). Psy­cho­logisch gesehen mündet der Skeptizismus in die Verzweif­lung (otčájanie, Stolp 39). Diesen Skep­tizismus kann man nur auf einer transrationalen Ebene überwin­den. Die leere Selbst­identität des „A = A“, die egoistisch jedes Nicht-A aus­schließt, muss durch eine konkrete Selbstidentität überwunden wer­den.

Florenskij schreibt dazu:

„Die selbst-­bewei­sende und selbst­be­gründende Natur des Subjektes der WAHR­HEIT des Ichs ist die Relation zu einem Er durch ein Du. Durch das Du wird das subjektive Ich zu einem objekti­ven Er, und im letzte­ren hat das Ich seine Bestätigung, seine Gegen­ständlichkeit als Ich… Die WAHRHEIT ist die Betrachtung sei­ner selbst durch den Anderen in einem Dritten: der Vater, der Sohn und der Geist. […] Die WAHRHEIT ist folglich eine ein­zige Wesen­heit in drei Hyposta­sen. Nicht drei Wesenheiten, sondern eine einzige; nicht eine einzige Hypostase, sondern drei.“

(Stolp 48/49)

Mit „Wesenseinheit“ (griech. homousía) bezeichnet Florenskij in der athanasianischen theologischen Tradition die konkrete Einheit von Vater, Sohn und Hl. Geist (Stolp 58). Die Wesens­einheit ist für Florenskij Krite­rium und Richtschnur zur Beur­teilung aller Philosophien. Denn die An­nahme der Homousie erst ermöglicht die Erkenntnis, dass die ganze Welt auf Gott ausgerichtet ist. Die Annahme der Idee der Homöusie (griech. homoiusía), also der Wesensähnlich­keit, führt unweigerlich in die Aporie der Antinomien, die Leben und Denken zerstören. Nur der kirchliche Glaube stellt Rettung bzw. Erlösung dar, in dem man sich in der Liebe von drei Dreieinigkeit ergreifen lässt.

Dieser Glaube ist keine An­nahme dogmatisierter Wahr­heiten, sondern die in der orthodoxen Kirchlichkeit geistlich erfahrene Trinität. In den Rahmen des Homousie-Gedankens gehören Florenskijs sophianische Re­flexionen. Neben Vladimir Solov’ëv, Sergej Bulgakov und Jevgenij Tru­beckoj wird Florenskij zu den wichtigsten russischen Sophiologen ge­zählt. Der Brief über die Sophia ist der längste aller Briefe. Im Unter­schied zur ungeschaffenen Weisheit in Gott ist die ge­schaffene Weisheit das hypostatische Urbild der Schöpfung, das in der Mutter Gottes seinen höchsten Ausdruck gefunden hat. Mit dem Ge­danken der Weisheit, der in der ostkirchlichen Liturgie eine so bedeutsame Rolle spielt, versuchen die „So­phiologen“ die Spaltung von Glaube und wissen, Kirche und Welt usw. zu überwinden.

Das Nachwort verweist noch einmal auf den Ausgangspunkt des Denk­weges: „Es gibt zwei Welten“ (Stolp 483). Diese zwei Welten themati­sierte schon der erste Brief, indem er un­ter Hinweis auf Mt 11 die Frage nach der Erkenntnis stellt, „und zwar nach der Mangelhaftigkeit der rationalen Erkennt­nis und der Notwendigkeit der spirituellen Erkenntnis“ (Stolp 12). Gleichzeitig erinnert die Thematisierung der beiden Wel­ten zweifelsohne an Augustins „duae civitates“, ohne dass Florenskij dies explizit macht. Wie bei Augustinus, so geht es auch bei Florenskij nicht um ein Diesseits, dem ein Jenseits entgegengesetzt wird. Bei Augusti­nus sind die beiden civita­tes „nämlich in dieser Welt ganz ineinander verschlungen und miteinander vermischt, bis sie durch das letzte Ge­richt ge­schieden werden – perplexae quippe sunt istae duae civitates in hoc saeculo invicemque permixtae, donec ultimo iudicio di­rimantur“. Bei Augustinus stellen die beiden „civitates“ ent­gegengesetzte „Lebens­formen“ dar:

„Fecerunt itaque civitates duas amores duo, terrenam sci­li­cet amor sui usque ad cont­emptum Dei, caelestem vero amor Dei us­que ad contemptum sui – Demnach wurden die zwei Staaten durch zweierlei Liebe begründet, der irdische durch die Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigert, der himmlische durch Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebt.“

(Übersetzung: Wil­helm Thimme)

Entsprechendes gilt auch für Florenskijs bei­de Welten, die ebenfalls ent­gegengesetzte Lebensformen dar­stellen. Florenskij fährt dann fort:

„Und diese ganze Welt hier zerfiele in Widersprüche, wenn sie nicht mit Hilfe der Kräfte jener Welt lebte. In ihrer Stimmung herrschen gegensätzliche Gefühle, in ihrem Willen gegensätzliche Wünsche, in ihrem Denken ge­gensätzliche Gedanken. Antinomien spalten unser ganzes Wesen, unser gesamtes geschöpfliches Leben. Wider­sprüche überall und immer! Im Glauben dagegen, der die An­ti­nomie des Bewusstseins bezwingt und sich einen Weg bahnt durch deren atemlähmende Schicht, gewinnt man ein Felsen­fundament, von dem aus man an der Überwindung der Anti­nomien der Wirklichkeit arbeiten kann. Aber wie kommt man zu diesem Fels des Glaubens?“

(Stolp 483)

Die Antwort dar­auf ist der Weg der As­kese, nämlich die Preisgabe der ei­gen­mächtigen Selbstbefangenheit in der widergöttlichen Selbst­behauptung (Stolp 173), in der Läuterung des Herzens und in der Liebe (Selbsthingabe) als der Aufnahme des Ande­ren in sich (Stolp 215).

„Erkenntnis wird Liebe“ (Gregorios von Nyssa)

Trotz seiner umfassenden Kennntnisse ind Philosophie und Theologie so­wie der neuesten Entwicklungen in Mathematik und Naturwissenschaf­ten versteht er sich selbst als einen mit­telalterlichen Menschen, der so­gar in seinem 1922 publizier­ten Werk „Mnimosti v geometrii – Imagi­näre Größen in der Geometrie“ den Versuch unternimmt, die geozentri­sche (ari­stotelisch-ptolemäisch-dantesche) Weltvorstellung des europäi­schen Mittelal­ters, wie sie seiner Mei­nung nach am vollen­detsten in Dantes Divina commedia dargelegt ist, mit Hilfe der Relativitätstheorie neu zu be­gründen. Mit Überraschung liest man, dass Dante bereits die nichteu­klidische Geometrie vorweggenom­men habe. Florenskij war ein über­zeugter An­hänger der Philosophie Pla­tons und vehementer Kritiker Kants. Mit seiner Suche nach ganzheitli­chem Denken und ei­ner ganz­heitlichen Weltanschauung steht er nicht nur dem Denken Goethes nahe, dessen Werk er gut kannte, sondern beweg­te sich auch in der bis heute in Russland mächtigen Strömung der Slawo­philen, ohne sich selbst als einen solchen zu bekennen. Florenskijs Werk ist gegen den modernen Posi­tivismus und Rationalismus gerichtet, die den christlichen Glauben ernstlich bedrohen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Florens­kijs antimodernistische Gedanken heute nicht selten als durchaus at­traktiv empfunden werden.

4.1. Zusammensein von Gott und Welt

Die Geschöpflichkeit der Welt lässt ein Zusammensein von Gott und Welt/Mensch wegen der offensichtlichen Inkompati­bilität der beiden Realitäten als unmöglich erscheinen. Was im Westen nicht als Problem gesehen wurde, beschäftigt das öst­liche Denken von Anfang an. Flo­renskij verweist auf Aristote­les, der behauptet habe, ein Zusammensein (Liebe) sei zwi­schen „heterogenen Wesen“ nicht möglich (Stolp 279). Wäh­rend das westliche Denken auf die Dreifaltigkeit Gottes ver­weist, um die Möglichkeit eines Zusammenseins von Gott und Welt zu erklä­ren: die Welt ist von vornherein in die innergött­liche Beziehung von Va­ter, Sohn und Hl. Geist hineingeschaf­fen, eine Realität, die durch die In­karnation offenbar wird.

Florenskij drückt diese Realität durch den altkirchlichen, auf Athanasios den Großen zurück­gehenden Begriff der Homousie aus. Der Begriff meint eigentlich ur­sprünglich die „unver­mischte und ungeteilte“ (griech. asygchútos, russ. neslítno und griech. achorístos, russ. nerazdelímo) Einheit von göttli­cher und menschlicher Natur in Christus („hypostati­sche Uni­on“).[8] Die chalkedonensische Definition der hypostatischen Uni­on bzw. Homousie ist das zentrale Stück christlicher Trini­tätslehre und unterscheidend Christliche. Ohne sie lässt sich die Gott-­Mensch-Bezie­hung nicht von Mythologie unterschei­den.[9] Florenskij dehnt den Begriff der Homousie auch konse­quent auf das Zusammensein von Gott und Welt aus. Er denkt sich die Beziehung zwischen Gott und Mensch als hypo­statische Union. Gottes Liebe zur Schöpfung, die von Gott als Liebe ausgeht, ist nach Florenskij nur denkbar, wenn man die Gottheit als dreifaltig denkt (Stolp 279-80) Und darin besteht für ihn das Heil/die Rettung des Menschen als zentrales Ke­rygma der orthodoxen Kirche. Für Florenskij ist homousiani­sches Denken, das die Logik des Verstandes sprengt, zentral; darum kritisiert er entsprechend homöusianische Einstellun­gen (Homöusie = Wesensähnlichkeit), die auf Mythologie und Magie hinauslaufen.Was viele Leser übersehen, ist, dass Flo­renskij auch den modernen Naturwissenschaften eine homöu­sianische Geisteshaltung vorwirft.

4.2 Die christliche Agape als kirchliche Existenzform

Florenskijs Überlegungen zielen, wie das Robert Slesinski recht gut in seiner Arbeit über Florenskijs Hauptwerk heraus­stellt, auf eine Metaphysik der Liebe (Agape) und der Freund­schaft.

Die Reihenfolge der zwölf Briefe orientiert sich an diesem Weg. Die­ser Weg führt aus der Sünde (als Spaltung und Zer­fall der Person, weil wider­göttliche Selbstbehauptung) durch die Läuterung des Her­zens zur Eini­gung des inneren Lebens der Person, welches die Liebe ist (Stolp 173). Und die Liebe ist die Aufnahme des Anderen in sich (Stolp 215). In diesem Zusammenhang mögen der siebte (über die Sünde) und der achte Brief (über die Gehenna) ob ihrer z. T. obskuren Berich­te und Überlegungen einen modernen Leser besonders irritie­ren. Man sollte dabei Florenskijs Kerngedanken nicht aus dem Auge verlieren. Sünde sieht Florenskij nicht in erster Linie als moralische Verfehlung, sondern als existentielle Haltung ei­genmächtiger Selbst­befangenheit, welche die Person letztlich in ihrem Personsein zer­stört. Die Überlegungen zur Gehenna (Hölle) sind bei Flo­renskij durch die Kritik an einer apokata­sta­ti­schen Verharmlosung bzw. Relativie­rung der Ernsthaftig­keit menschlicher Handlungen motiviert. Den Ver­such Floren­skijs einer anderen Bestimmung der Apokatásta­sis-Lehre des Origenes durch die Unterscheidung der Person (die gerettet wird) und ihrer Taten (die verurteilt werden) mag man dabei als nicht sehr gelungen ansehen. Der Auszug aus der wider­gött­li­chen Selbstbe­hauptung durch die Läuterung des Herzens befähigt zur Liebe, die als innertrinitarische Relati­on auch das Wesen der Gottheit darstellt.

Florenskij unterscheidet agápe (Nächstenliebe) und philía (Freund­schaft) als die beiden Grundaspekte der Kirchlichkeit. Agape be­stimmt er als „Brüderlichkeit“. Sie wird im Mit­menschsein, in der täti­gen Näch­stenliebe konkret. Davon un­terscheidet er die Freundschaft: „Für den Christen ist je­der Mensch ein Nächster, aber durchaus nicht jeder ein Freund“ (Stolp 412). Zur Freundschaft als der höchsten Form der Lie­be gehört für Florenskij unbedingt die Eifersucht, die er als eine Tugend versteht (Stolp 482). Die Eifersucht ist gleichsam der Motor, der das Streben nach der Säule und dem Sockel der Wahrheit realisiert und durchhält.

„Die Sophia (die wahre KREATUR bzw. die Kreatur in der WAHR­HEIT) ist vorläufig ein Hinweis auf die verklärte, ver­geistigte Welt, die für anderen unsichtbare Manifestation des Himmlischen im Irdischen. Diese Offenba­rung vollzieht sich in der persönlichen, aufrichtigen Lie­be zweier Perso­nen, in der Freundschaft, wenn dem Liebenden vor­läufig, ohne Askese, die Überwindung der »Selbst-Identität« ge­schenkt wird, näm­lich die Auf­hebung der Grenzen des eigenen »Ichs«, das Her­austreten aus sich selbst und das Finden des eigenen »Ichs« im »Ich« des anderen, des Freundes. Die Freundschaft als ge­heimnisvolle Geburt des Du ist jene Umgebung, wo die Of­fenbarung der Wahrheit ihren Anfang nimmt.“

(Stolp 391-2)

„Die Säule der Wahrheit ist die Kirche… Um zur Wahrheit zu kommen, muss man sein eigenes Selbstsein aufgeben, muss man aus sich her­aus­gehen; aber das ist für uns entschieden nicht möglich, denn wir sind Fleisch [d.h. geschaffen]. […] Die drei-einige Wahrheit selbst macht für uns das, was für uns unmöglich ist. Die dreihypostatische Wahrheit selbst zieht uns zu sich heran.“

(Stolp 489)

Mühldorf am Inn, im Juli 2015


[1]   SWR-Sendung am 21.06.1998, 12:05 Uhr, Autor: Gerhard Adler.

[2]     Gustav A. Wetter, Ursprünge und erste Entwicklung der russischen Philosophie – Gedanken zu einer Philosophie ihrer Geschichte, in: Geschichte der philosophischen Traditionen Osteuropas, herausgegeben von Helmut Dahm und Assen Ignatow, Darmstadt 1996, 3-43, hier S. 3.

[3]     Pavel Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, Moskau 1914, 80.

[4]     Xavier Tilliette, Schelling Biographie, Aus dem Französischen von Susanne Schaper, Stuttgart 2004, 480f.

[5]     Der Neuplatonismus ist eine „spätantike philosophische Geistesströmung, die mit Ammonios Sakkas (gest. 242) begann, ihre Höhepunkte in Plotin, Jamblichos und Proklos erreichte und schließlich durch Augustinus und Ps.-Dionysios Areopagita ihre christliche Wendung fand.“

[6]        Es wäre einer weitergehenden Überlegung wert, dass – wie mir scheint – jeweils zwei der Briefe thematisch zusammengehören: die zwei Welten und der Zweifel, die Dreieinigkeit und das Licht der Wahrheit, der Paraklet und der Widerspruch, die Sünde und die Gehenna, die Schöpfung und die Sophia, die Freundschaft und die Eifersucht.

[7]   Florenskij bezeichnet die Wahrheit auch als ein selbst-kontradiktorisches Urteil (Stolp 147).

[8]     Die Bedeutung der christologischen Formel, die auf dem Konzil von Chalkedon 451 gefunden wurde, legt der russische Kirchenhistoriker Anton V. Kartašëv (1875-1960) unübertroffen klar dar; vgl. Vselenskie sobory, Moskau 1994 (Paris 1963), 261-285. Kartašëv emigrierte 1920 nach Frankreich und war lange Jahre Professor an dem or­thodoxen theologischen Institut in Paris. Ab den 1990er Jahren begann man seine Bücher auch in Russland zu drucken.

[9]     Leider sehen heute viele christliche Theologen völlig problemlos die Wechselbezie­hung zwischen Gott und Mensch und glauben dann natür­lich auch ganz konsequent, auf die altkirchliche Trinitätslehre verzich­ten zu können. Vgl. Knauer, Der Glaube kommt vom Hören, Freiburg 61991, 128, Anm. 164.

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