Kult und Symbol,  Orthodoxie und Katholizismus

7-1-05 Katholizismus, Pharisäertum, Darstellerei

31. Juli 1911, nachts, Sergiev Posad

Die katholische Liturgie ist kein Mysterium, sondern ein Schauspiel, ein Drama, das Drama der Leiden Christi.[1] Hieraus leiten sich charakteristische Besonderheiten ab. Insbesondere ist dort alles offensichtlich, alles wird vorgezeigt. Daher keine Ikonostase; der Altar ist offen – damit alle alles sehen können. Alles, was geschieht, geschieht für das und vor dem Volk. Altar – Bühne. Daher äußerliche Effekte, Gesten, Dressur der Altardiener. Hieraus – Entfernung aller Teile der Liturgie, die ihrem Wesen nach verborgen sind (Zurüstung). In der Orthodoxie dagegen nicht Drama, sondern heilige, mystische Handlung – für die Engel. Das Wichtigste – im Mystischen. Welch tiefer dogmatischer und historischer Symbolismus der Zurüstung und der anderen verborgenen Teile! Welch Poesie, und dies alles für niemanden außer für Gott. Wir dienen Gott.

Bei den Katholiken gibt es überhaupt keinen Symbolismus (Guettée[2])[3]. Dort ist Plastizität, jedoch keine Musik der Seele. Wandlung – durch Christus imitierende (μίμησις) Worte; bei uns dagegen – realistisch, durch den Heiligen Geist („kraft der Einsetzungsworte“ des Sakraments).

Der katholische Priester kommuniziert nicht das Heilige Blut, sondern sumiert es – in zwei Zügen alles. Spendet jedoch[4] nur das Lamm (NB !!!) (d.h. die Kirche steht Christus gleich!) (das ist es, wo Solov‘ev[5] steht). So kommuniziert er unter der Gestalt des Brotes.


[1] Ein Exzerpt Florenskijs hierzu: Ryss, Petr: Durch Italien [Po Italii], in: Russkaja mysl‘ V/1911 ff.: 2. Teil im Juniheft, S. 1 Stichwort „Rom“ –

eine überaus klare Charakterisierung des zeitgenössischen Römers, der in Wirklichkeit – semper idem! – genau noch jener heidnische, sentimentale, naiv-egoistische und durch und durch ungeistliche Römer ist. Weder Zivilisation noch Christentum konnten ihm etwas anhaben. Sehr gut. Speziell zu Religion S. 2 f.:

„Achtzehn Jahrhunderte lang versuchte hier das Christentum, die Schönheit zu vergeistigen, sie durch moralisches Wesen unsterblich zu machen – und hat dabei Schiffbruch erlitten: der Begriff vom Guten ist lediglich eine Ableitung von „Schönheit“. Und Nero ist bis heute stärker als Apostel Petrus. Was ist Religion? Es ist eine „Sache“, zuweilen eine sehr schöne, wenn die Kirche herrlich ist, voci blanche gesungen wird, die Orgel tönt, wenn es auf der Straße regnet, und in der Kirche ist es schön warm. Was der Priester da in unverständlichem Latein murmelt – das ist irgendetwas Wesentliches, was nur sehr wenig mit einem zu tun hat. Religion ist etwas für die Mönche und die Priester, die davon leben, es ist deren Metier. Die Kirche ist ein Theater, wo man religiöse Sachen aufführt. Im Theater ist alles erlaubt: laut zu reden, wenn das Stück uninteressant ist, sich in den Stuhl flegeln, auf den Boden spucken (wenigstens ist es in Italien so). So fühlt sich der Römer, der ja nur selten eine Kirche betritt, und dann vorwiegend, um „zuzuschauen“, hier genauso wie in der Osteria, wo er abends Frascatiwein trinkt. Er beschaut sich die Statuen, tauscht seine Eindrücke mit dem Nachbarn aus oder träumt vor sich hin, und spuckt einer nahebei stehenden Alten auf den Rock. Die Geistlichkeit, in ihrer Sorge um die schöne Ordnung in der Kirche und um ihre Schäfchen wohl wissend, bittet diese „aus Achtung vor dem Hause des Herrn nicht auf den Boden zu spucken“ – diesen Hinweis finden Sie in jedem Gotteshaus der Ewigen Stadt, ebenso auch einen Fußboden, der bespuckt ist wie der einer russischen Polizeiwache.

Spucken ist schließlich etwas „Natürliches“, das Hinterschlucken der Spucke schädlich, das Taschentuch damit zu beflecken lächerlich, und was hat das Ganze überhaupt mit einem Gotteshaus zu tun?“ Usw. NB.

„So werden intimste Gefühle durch einfache, unverbindliche Formalität ersetzt. Es gibt keine Mysterien, dafür Fakten. Der Tod ist einer, die Geburt, das Leben. Letzteres verläuft wie ein Sammelsurium an Fakten: dann und dann geboren, dann und dann Gianetta kennengelernt, für Francesca eins mit dem Messer bekommen, dann und dann wegen Beleidigung eines Carabinere vor Gericht. Kleine, große, aber immer Fakten und Fakten, angenehme und unangenehme, schöne und hässliche. Und das ganze Leben geht drauf, um Fakten zu schaffen, solange nicht der Tod eintritt, als trauriges Faktum, das den Liedern in dunkler Nacht, dem Wein und der Versuchung durch vollbrüstige Schönheiten aus dem Stadtteil hinter dem Tiber ein Ende bereitet. Und die Reden der Freunde am Grab ziehen eine Bilanz dieses ganzen Lebens aus kleinen Fakten, die ja manchmal auch nicht dem Strafgesetzbuch zuwiderlaufen. Hier eine Religion des Geistes einzupflanzen ist unmöglich…“ Usw. usw. NB.

[2] René-François (Vladimir) Guettée, 1816 – 1892, französischer katholischer, später orthodoxer Priester und Theologe

[3] Guettée, René-François (Hrsg.): Glaube und Verstand [Vera i razum], o. A. 1887, Bd. 1 Teil 2, S. 552

[4] In der russischen Ausgabe steht „nicht“ [ne], was einen offenkundigen Widerspruch zum Kontext bildet, daher vermutlich ein Übertragungsfehler; korrigiert zu „jedoch“ [no]. Vergl. Florenskijs Aufsatz „Bei Chomjakov“ [Okolo Chomjakova] von 1916 (Online ru), wo er diese Frage ausführt.

[5] V. S. Solov‘ev hatte am 19. Februar 1896 vor der Liturgie das Tridentinische Glaubensbekenntnis gesprochen und die Kommunion von dem katholischen Geistlichen Nikolaj Tolstoj empfangen. (H)

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