Orthodoxie und Katholizismus

7-1-04 Nachahmung

31. Juli 1911

1) Das westliche Denken, in seinem Wesen räumlich, stellt alles in einem Schema der Ausgedehntheit dar. Alles, was eine Ausdehnung hat, besteht aber aus Teilen. Die Teile kommen vor dem Ganzen, während im östlichen Denken das Ganze vor seinen Teilen kommt (Aristoteles)[1].

2) Teile ergeben ein Ganzes, und das Ganze ist nur ens rationis[2], nicht mehr. Hieraus folgt der unüberwindliche und schicksalhafte Atomismus. Hieraus der Psychologismus

3) Weiter, wenn das Ganze nicht seine Teile hervorbringt wie Organe, sondern selbst aus ihnen zusammengesetzt wird, dann sind die Teile, das Äußere, Ausgedehnte alles  – mehr ist dazu nicht zu sagen. Die innere Welt kann es ihrem Wesen nach nicht geben – alles ist außen. Alle Werte sind folglich zwingend äußerlich.

4) Äußerlich sein bedeutet aber darstellend sein, nicht in sich, für sich sein, sondern für einen anderen. Jeder Wert ist zwingend für einen anderen da, ist ein Wert zum Vorzeigen. Für das westliche Denken ist das Darstellen notwendige Folge der Natur der Werte. Je mehr dargestellt wird, je mehr äußerlichen Glanzes, umso größer der Wert. Pharisäertum, zur Schau gestellte Tugend, äußere Organisation des Katholizismus, Papstkaisertum, „Sozialismus“ als äußerliche Wohlorganisiertheit, äußerer Komfort, Anständigkeit – dies die notwendige Folge räumlichen Denkens. Dies alles verhält sich zur inneren Welt und Stimmung ebenso, wie Niedlichkeit zu wahrer Schönheit. Im Gegenteil, jeder Rest des Inneren wird säuberlich vernichtet.

5) Organischer Hass auf das Innere, Ausmerzen des Inneren. Katholizismus und Jesuitentum. Die Worte Samarins über die Moral.[3]

6) Jesuitentum ist die Quintessenz des westeuropäischen Geistes, das Salz Westeuropas, und hat viel für die Austreibung der Reste inneren Lebens getan. Sie mussten „die ganze Welt an sich ziehen und niemanden abstoßen“ (Pascal)[4]. Und wie? Durch die Schaffung der „La dévotion aisée“, der „einfachen Hingabe“, nach der Kapitelüberschrift eines der jesuitischen Aufsätze von Pierre Le Moyne[5].

7) Ihre Moraltheologie beschäftigt sich mit der Lösung einer Frage – was das Gesetz vom Menschen fordert, und wie man sich dieser Forderungen erwehren kann – und nur mit dieser.

8) Das Geheimnis dieses Erwehrens aber liegt in den Händen gelehrter Herren, die Kataloge von Tugenden und Sünden veröffentlichen. Sie haben das Gewissen gestohlen und sich so für die Bestohlenen unverzichtbar gemacht.

9) Das unmittelbare Verhältnis der ganzheitlichen Persönlichkeit zu einem konkreten Lebensprozess, die unmittelbare Aufnahme des Lebens in sich ist im Westen durch ein vorheriges Zerlegen des Lebens in Begriffe ersetzt worden, und sie bewerten nicht das Leben (bestimmen ihr Verhältnis nicht zum Leben), sondern den Begriff. Dadurch wird die Ganzheit des Lebens zerstört, und im Anschluss werden auch die Begriffe endlos zerstückelt und zermahlen. Einteilungen und Unterteilungen, Schematismus und äußerlicher Formalismus, äußerliche Ordnung beweisen den Tod des Untersuchungsgegenstands.

10) Man kann keinen lebendigen Menschen in Schubladen einsortieren, wohl aber einen toten. Von einem lebendigen Organismus kann man nicht mit Unbedingtheit sagen, was das erste ist und was das zweite, weil alles voneinander abhängt. Von einem Haufen, einer Anzahl Körper aber geht das.

11) Wenn der Wert, das Heiligtum seinem Wesen nach äußerlich ist, dann sind Kommunion und Vereinigung damit unmöglich. Das Verhältnis zum Heiligtum ist dann ewiges Dürsten, ewiges Wünschen, ewige Suche, und nie gibt es Frieden und Ruhe. Ewiges Gedenken.

12) Wenn orthodoxe Mystik Ehe ist, so ist katholische – Lust, Wollust.

13) Katholische Architektur und orthodoxe Gotik; Strecken nach dem Himmel und ruhig im Himmel sich vollendendes orthodoxes Gotteshaus.

14) Leidenschaftlicher Charakter der Mystik. Religiöse Erotik und erotische Religion. Erotischer Charakter des Verhältnisses zur Herde: dem Wesen nach Vergötterung und Hypnose.

15) Hieraus – nicht innere Aufnahme Christi in sich, sondern äußerliche Imitation Christi, Nachahmung seiner Äußerlichkeit, μίμησις[6]. Nicht Leben in Christus, sondern Christus als Maske. Der allbekannte Franziskus von Assisi – er wurde mit Christus verglichen. Teresa. Loyola.

16) „De imitatione Christi“ des Thomas von Kempen. Im Gegensatz zum direkten Zeugnis des Ambrosius von Mailand: „Wir können Gott nicht nachahmen“ (Über die Jungfräulichkeit“)[7]. Ignatij Brjančaninov [über Thomas v. Kempen]: „ein aus ‚eigener Meinung‘ geschriebenes Buch“[8] nach dem Zeugnis des Altvaters Isaija, in der Nikiphoros-Einsiedelei: Wie er es sich vorstellte, so schrieb er, doch inwendig erfahren hat er es nicht.

17) Es geschieht ein Ersetzen des Inwendigen durch das Äußere, das Übersetzen des Innerlichen in die Sprache des Äußeren, die systematische und schicksalhafte Wiedergeburt des Inwendigen in Äußerem. Maske [ličina] anstelle der Person [lico], Imitation geistlichen Lebens, ein Automat anstelle eines Organismus, Fälschung – d.h. Verführung, Betrug und Selbstbetrug. Feuer des Blutes anstatt des Feuers göttlicher Liebe. Daher engt die von außen aufgezwungene Form, Formel, Maske die Freiheit der kreativen Persönlichkeit ein und tötet sie.

18) In der Orthodoxie dagegen völlige Freiheit der Form nach Annahme des Lebens, des schöpferischen Prinzips. Äußerlich kein bisschen Christus, inwendig aber – Er. Unsere Ikonografie und die katholische Kunst.

19) Christus muss man in sich schauen, und nicht außerhalb, nicht als Halluzination.

20) Äußeres Entsetzen vor dem Hades. Herzzerreißende Klagen, Aufruhr – Mozarts Requiem – das beste.

20) Gottesdienst – wieder alles Äußerlichkeit, Fleisch. Altar – offene Bühne. Wenig Mystisches. Zurüstung.


[1] (Vergl. Metaphysik 1045A, 9 f.; Politik, 125A, 21)

[2] (lat.) Gedankending

[3] Vergl.: Die Jesuiten und ihr Verhältnis zu Russland, in: Samarin, Jurij Fedorovič: Aufsätze [Sočinenija], Moskau 1887, Bd. 6 S. 92 f. (PDF ru)

[4] Vergl. Pascal, Blaise: Lettres écrites par Louis de Montalte à un Provincial de ses amis et aux R.R. Pères Jésuites [Pis’ma k provincialu, ili Pis’ma Ljudovika Montal’ta k drugu v provinciju i k otcam iezuitam o morali i politike iezuitov], Sankt Petersburg 1898, Brief 5, S. 53 – 56 (Online orig.)

[5] Pierre Le Moyne (1602 – 1671), frz. Jesuit, Theologe und Dichter, gegen den Pascal in seinen pseudonym veröffentlichten „Lettres provinciales“ polemisierte.

[6] (griech.) Nachahmung

[7] Hl. Ambrosius von Mailand: Über die Jungfräulichkeit (De virginitae), in: Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand. Übersetzt von Dr. Franz Xaver Schulte. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 13), Kempten 1871, Kapitel XVII S. 185

[8] Vergl. Brjančaninov, Ignatij, Werke Bd. 1 (Asketische Erfahrungen) [Sočinenija episkopa Ignatija Brjančaninova. T. 1. Asketičeskie opyty], 2. Aufl. Sankt Petersburg 1886, S. 254 f. (PDF ru; Online ru: Über das Jesusgebet II)

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