VII Anlage 1 – Orthodoxie und Katholizismus

7-1-06 Katholizismus

Die ganze Geschichte der römischen Kirche ist eine schrittweise Degeneration (Metamorphose) des Christentums in das Lateinertum, die Metamorphose (Degeneration) des Lateinertums in das Papsttum, des Papsttums in das Jesuitentum.[1]

Wie das katholische Asketentum eine äußerliche Nachahmung Christi ist, ohne das innere Wesen des Lebens Christi[2], so ist auch ihr Gottesdienst und die Kunst der Katholiken Nachahmung, μίμησις, Drama, das Mysterium – eine Imitation Christi, Sein äußeres Antlitz, äußerliche Nachahmung, nicht aber das Leben Christi. Hieraus folgt die Unfreiheit des Katholizismus, die Furcht, sich vom Buchstaben des Originals zu entfernen, in der Orthodoxie dagegen das innere christliche Leben bei völliger Freiheit der äußeren Form. Äußerlich ist der russische Gottgefällige Christus in nichts ähnlich, der katholische schon eher. Aber inwendig ist Christus „russisch“.


[1] Vergl.: Kirchliche Wahrheit [Cerkovnaja Pravda], 1. Jhrg., Nr. 10, vom Donnerstag, 15./2. Mai 1913, S. 286

[2] Vergl.: Ebenda, S. 293

7-1-07 Directeur de conscience

15. August 1911

Katholizismus

Die Einführung des verpflichtenden Zölibats der Geistlichkeit war ein außerordentlich bedeutender Moment in der Geschichte des Katholizismus. Die Kirche wurde durch die im Inneren eingesperrte Lust vergiftet. Hieraus folgt auch die berüchtigte katholische Beichte, der ganze gefühlsbetonte Charakter des Kults, von allem[1]. Hieraus der gefühlsbetonte Asketismus und gefühlsbetonte Kult der Gottesmutter.

Einstieg. Gesprächsthema. Die ganze Orthodoxie – über die geistliche Geburt. Der ganze Katholizismus – über geistliche Dressur, Exerzieren.

Directeur de conscience[2]

Bei uns gibt es den „geistlichen Vater“. So wie der leibliche Vater das Leben von Gott weitergibt, der Empfänger aber selbst lebt, eigenständig, nach den Gesetzen seiner physischen Individualität, so spendet auch der geistliche Vater geistliches Leben von Gott, gebiert in Qualen und Leiden, in Trauer und Lasten ein neues Wesen in der geistlichen Welt, erzieht es, füttert und ernährt es – doch lebt der so Geborene nach den Gesetzen seiner eigenen geistlichen Individualität, selbst und selbständig. Er ist gerade geistlicher Sohn (vgl. bei Apostel Paulus) (1 Kor 4,15). Sein geistlicher Vater versorgt ihn, öffnet ihm den geistlichen Blick, hilft ihm, kann und darf ihm aber nichts einreden. Ganz anders bei den Katholiken. Dort gibt es keine geistlichen Väter, Altväter, sie haben den directeur de conscience, director conscientiae[3] – einen Führer und Korrektor des Gewissens. Dabei zeichnet die Einbildung das Bild eines Abweichens des Gewissens von einem ihm vorgezeichneten Wege, eines schiefen Weges des Gewissens und einer Reihe äußerer Anstöße, die es auf die vorbezeichnete Bahn zurückführen. In der Orthodoxie wird von der Persönlichkeit die Wiedergeburt, Neugeburt, innere Wandlung gefordert, im Katholizismus lediglich die äußerliche Nachfolge auf einem vorbestimmten Weg. In der Orthodoxie lebt die Persönlichkeit selbst ein geistliches Leben, im Katholizismus aber ordnet sie sich lediglich einer äußeren Form unter, in die man sie hineinpresst, wobei sie in Wirklichkeit die frühere bleibt und dazu – äußerlich – noch pervertiert und scheinheilig, oder aber unterdrückt und versklavt wird. Directeur de conscience! Als ob man dem Gewissen dirigieren und befehlen, Führer des Gewissens sein könnte! Gott Selbst ist nicht so. Hieraus folgt entweder Heuchlerei und Räubertum oder ein Zustand der Einbildung und Hypnose. Der directeur de conscience hypnotisiert seine Opfer und verwandelt sie in seine willenlosen Werkzeuge. Sie sind sicut cadaver[4] in seinen Händen. Hypnose aber wirkt vorrangig auf Frauen. Erotik. Grobe Erotik. Auch wenn solche eine Ausnahme ist, bestätigt sie doch die Regel. Denn eine feine Erotik ist überall, das Wesen des Verhältnisses selbst ist erotisch, denn Frauen verspüren eine Verliebtheit in ihren directeur de conscience. In der Orthodoxie ist Grigorij Rasputin[5] eine Ausnahmeerscheinung, für Katholiken ist er nur ein besonders ausgeprägter Fall.


[1] Vergl.: Tagebuch einer katholischen Nonne [Dnevnik katoličeskoj monachini], Sankt Petersburg, o.A. (Anm. Florenskijs: in England 30 Ausgaben); sowie Chiniquy, Charles (ehem. kath. Priester): Die katholische Beichte und die Frau [Katoličeskaja ispoved‘ i ženščina], 2. Aufl. Sankt Petersburg 1900 (orig.: Le prêtre, la femme et le confessionnal, Montreal 1877, dt. Der Priester, das Weib und der Beichtstuhl, Biel 1901 ); ders.: Warum ich von der Katholischen Kirche abfiel [Počemu ja otpal ot Rimskoj Cerkvi], Sankt Petersburg 1899

[2] (franz.) Spiritual, Seelenführer, geistlicher Begleiter

[3] (lat.) dasselbe

[4] (lat.) einer Leiche ähnlich; der Ausdruck bezieht sich auf das Gehorsamsverständnis des Ignatius von Loyola (1491-1556), Gründer der Gesellschaft Jesu, des Jesuitenordens. Nach Ignatius ist der Gehorsam „blind“ (oder eben sicut cadaver) gegenüber Eigenwillen und Selbstsucht.

[5] Grigorij Efimovič Rasputin (Novych) (1872—1916), russischer Mönch mit dem Ruf eines Wunderheilers; enger Freund der Zarenfamilie von Nikolaus II.; Gerüchten zufolge wirkte er erotisch-hypnotisierend auf Frauen. Ob diese Gerüchte gerechtfertigt sind oder absichtlich zur Rufschädigung der Zarenfamilie verbreitet wurden, ist nicht endgültig geklärt. (Anm. d. russ. Hrsg.)

7-1-08 Abende am Genfer See

[Der Abschnitt bezieht sich auf das auch in Deutsch erschienene Buch des polnischen Jesuitenpaters und Theologen Marian Morawski „Abende am Genfer See. Grundzüge einer einheitlichen Weltanschauung“ (dt. Freiburg im Breisgau, 1904) (PDF). Florenskij führt hier das Kapitel „Gespräch am VI. Abend“ mit dem Thema „Katholizismus und Andersgläubigkeit“ fort. Anschließend folgen eine Fortsetzung zu Kapitel „Gespräch am VII. Abend“, sowie Notizen zu einem von Florenskij beabsichtigten weiteren Kapitel „Gespräch am VIII. Abend“ (das Original endet nach dem siebenten Abend). Die Gesprächspartner Semenoff, Miss Wilson, von Hainberg, Leroy und den katholischen Pater gibt es im Buch von Morawski, die übrigen führt Florenskij ein.]

Als Abschluss des VI. Abends[1]

Semenoff. Meine Herren, ich danke allen, besonders aber den Verteidigern des Katholizismus, für unser heutiges Gespräch. Sie wissen, dass ich mich überhaupt recht wenig mit Glaubensdingen beschäftigt habe, dennoch bin ich mit dem Zustand der morgenländischen Kirche vertraut. Es war deshalb für mich immer ein insgeheimer Wunsch, aus dem Munde eines wahren, außergewöhnlichen und weitsichtigen Katholiken eine Selbstbezichtigung des Katholizismus zu vernehmen. Heute ist er in Erfüllung gegangen…

Miss Wilson. In unserer Heimat neigen sich die Sympathien eher Letzterem zu… Warum haben Sie Ihr Interesse auf den für Sie fernliegenden Katholizismus gelenkt, und nicht auf die Orthodoxie in Ihrer Umgebung…? Dies ist merkwürdig.

Semenoff. Merkwürdig? Keineswegs. Das ganze Elend bei uns in der Heimat kommt von einem Überschuss der Weite und Großherzigkeit. Nachdem ich mir, wie es viele bei uns tun, die Größe der katholischen Organisation vorgestellt hatte, ohne überhaupt etwas davon zu wissen, habe ich beinahe noch als Kind für mich den Entschluss gefasst, wenn schon kirchlich, dann auch katholisch zu werden. Ich habe keinerlei Schritte dazu unternommen, diesen kennenzulernen, mich jedoch auf der Grundlage meiner Kindheitsentscheidung der Mühe entledigt, meinen eigenen Glauben zu erforschen, der mir ja nur unbewusst beigelegt wurde. Nun habe ich zu meinem Glück das vernommen, was ich schon lange hätte vernehmen sollen. Jetzt…

Der Pater. Jetzt nun hat die Stunde Göttlichen Willens geschlagen, der Ihre Hinwendung zur katholischen Religion verlangt. Und sollte es Ihnen aus irgendwelchen Gründen ungelegen sein, dies öffentlich zu tun, so werde ich Ihnen mit Freuden bei einer diskreten Lossagung vom Schisma zur Seite stehen.

Semenoff. Oh, nein, Pater, Ihr Katholiken seid doch allezeit zu aggressiv und eilfertig im Bekehren. Zudem haben Sie mich ja nicht verstanden: Schließlich wollte ich sagen, dass Ihre Reden mich… zur Orthodoxie bekehrt haben.

Hainberg. Zur Orthodoxie?!…

Semenoff. Ja, zur Orthodoxie. Ist mir doch dank der Apologie des Katholizismus seitens des Herrn Pater sowohl klargeworden, wie hoffnungslos leer die großartige Kathedrale der katholischen Seele ist, als auch, wie gemütlich es doch in meiner heimatlichen Kirche ist.

Miss Wilson. Mit dieser Metapher will Herr Semenoff offenbar ausdrücken, dass der Katholizismus die Seele unbefriedigt lässt, indem er sie lediglich durch das Grandiose seiner Intentionen erstaunt und ihr den Atem verschlägt.

Semenoff. Ja, doch viel mehr noch. So überaus hold erscheint mir nun die Orthodoxe Kirche. Doch bin ich selbst schuld, dass mir jetzt die Worte fehlen auszudrücken, was ich in meiner Seele gerade zu begreifen beginne. Weil ich selbst von dem papiernen Dom des Katholizismus geträumt habe, achtete ich den lebendigen Leib der Heimatkirche gering. Gerade erst ward mir ihre Lebendigkeit bewusst.

Hainberg. Sie wollen wohl ausdrücken, dass sich in Ihrer Seele gerade jener Prozess vollzogen hat, den es auch in der Geschichte der Kirche gab, wo die Dogmen und ihre Formulierung zuweilen infolge eines verkehrten Bewusstseins der Häretiker entstanden?

Semenoff: Mir will scheinen, dass im Katholizismus neue Dogmen auf völlig anderem Wege zutage traten, einfach nur im Interesse des Systems.

Leroy. Allerdings wäre es für uns von Interesse zu erfahren, welches Lebendige Sie in der morgenländischen Kirche sehen. Schließlich kommt man, selbst wenn der Katholizismus nicht als Ganzes akzeptabel erscheint, nicht umhin anzuerkennen, dass er in sich eine mächtige kulturelle Kraft besitzt.

Semenoff. Meine Herren, auch für mich selbst wäre es von Vorteil, mir all dessen bewusst zu werden, was ich in meiner Seele zu entdecken beginne. Der Pater hat ja den Wunsch geäußert, uns in unserem nächsten Gespräch die allgemeinen Vorzüge des Katholizismus über die Orthodoxie darzulegen. Vielleicht geben Sie Ihre Zustimmung, den Herrn Kireevskij in diese Runde aufzunehmen, einen Menschen, der mehr als ich auf den Gebieten der Theologie bewandert und wahrhaft der Orthodoxie ergeben ist. Er weilt hier auf der Durchfahrt von seinem Kurort, wo er sich zur Heilung von irgendeiner schwierigen und merkwürdigen Krankheit aufhielt, deren wahre Ursache die Ärzte nicht ermitteln konnten. Eigentlich wollte er sich schon auf den Weg in seine Heimat machen, doch hat sich sein Zustand unterwegs so verschlechtert, dass er eine Pause einlegen muss. Wenn es ihm seine Gesundheit nur erlaubt, so werde ich ihn bitten, hierher zu kommen.

Alle erklärten ihre Zustimmung und verabschiedeten sich herzlich. Nur der Pater schien etwas auf dem Herzen zu haben, etwa als stünde ihm eine Entscheidungsschlacht bevor.

Katholizismus

Kritischer Katholik. Und das einfache Volk?

Ein anderer. Ja, darüber lässt sich leichter reden. Sie sprechen von Prinzipien. Nehmen wir aber die Wirklichkeit. Ist wirklich irgendein katholischer Bauer so dermaßen befleckt, wie Sie ihn darstellen? Ist er wirklich so verdorben? Sollte ein orthodoxer Bauer wirklich irgendwelche außergewöhnlichen Vorzüge ihm gegenüber haben?

Orthodoxer. Lassen wir diese Fragen. Wie hoch auch immer ich die slawo- und russophilen Strömungen schätze, schien es mir doch stets riskant, sie als Fixpunkt der Orthodoxie überzubelasten. Auch wenn ich für mich selbst denke, dass die Slawophilen recht damit haben, und der orthodoxe Bauer sehr wohl allen anderen gegenüber einen geistlichen Vorzug aufweist. Doch will ich darauf nicht beharren…

Katholik-Jesuit. Heißt das, Sie geben zu, dass der katholische Bauer keinesfalls schlechter ist als der orthodoxe?

Orthodoxer: Um des einfacheren Gesprächs willen gebe ich nach…

Katholik. Wenn Sie sich jedoch mehr in unser Leben vertieften, so würden Sie einverstanden sein, dass unser Bauer höher steht als Ihrer, dass er der Kirche ergebener ist…

Der andere. Einverstanden.

Orthodoxer. Nun, so ist es immer mit Ihnen. Reiche den kleinen Finger, und Sie reißen einem den Arm aus.

Orthodoxer. Nun ja, das ist nicht wichtig… Meinetwegen besser… Doch geht es nicht darum. Um die religiöse Kraft zu verstehen, muss man das Phänomen grenzwertig betrachten, in seiner höchsten Ausprägung, nicht in seinen anfänglichen Formen. Der Embryo einer Katze und der eines Kindes unterscheiden sich in einem gewissen Entwicklungsstadium fast nicht voneinander. Wenn die Entwicklung voranschreitet, tritt der Unterschied deutlich hervor. Genauso können auch ein katholischer und ein orthodoxer Bauer fast ohne Unterschied sein, weil sie ja nur Embryonen eines echten, entwickelten Orthodoxen beziehungsweise Katholiken sind. An diesen höheren Punkten der Entwicklung oder zumindest bei hinreichender Höhe des Aufstiegs werden die tiefen Unterschiede der Seelenstruktur der einen und anderen Weise geistlichen Lebens deutlich hervortreten.

Miss Wilson. Was sollen denn das für höchste Punkte der Entwicklung sein?

Orthodoxer. Die Heiligen. Die Heiligen des Katholizismus und die der Orthodoxie, oder sogar noch bestimmter, unter allen Heiligen die Asketen, die Ehrwürdigen, die auf dem Boden des Katholizismus und dem der Orthodoxie gewachsen sind.

Freund der Orthodoxie. Hier könnte man noch die Höhepunkte des abstrakten kirchlichen Bewusstseins anfügen, die Schlussfolgerungen der einen oder anderen Konfession(?).

VI. Abend, Ende gesondert. Kleinere Repliken von Semenoff, ein summarischer Einwand gegen die Einzelfragen.

VII. Abend

a) Unterschied der „Geister“ des Katholizismus und der Orthodoxie. Zwei nicht ineinander überführbare Schichten: geistliches Leben und katholische Kultur. Katholizismus als Pseudokirche und Protestantismus als Kirchenlosigkeit. Katholizismus als verirrte Kirche, Protestantismus als blinde. Der Katholizismus lebt, jedoch falsch; der Protestantismus zerfällt offensichtlich.

b) Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus als Prinzipien des persönlichen Lebens. Das Gefühlsbetonte des Katholizismus, Rationalismus… Mystik und Pseudomystik. Stigmatisation (im Osten keine. NB). Fantasiererei. Äußerliche Nachahmung Christi; der Orthodoxe „arbeitet an seiner Erlösung“, verändert seine Persönlichkeit. „Thomas von Kempen“, Teresa [von Ávila], Katharina [von Siena], Jeanne [d’Arc]. Sogar Franziskus („anstatt Christus“), der größte. Ignatius von Loyola, seine Unterweisungen (vergleiche mit Theophanes [dem Klausner]). Die katholische Beichte und das Institut der Bußstrafe[2]. Der Begriff der ἐπιτιμία[3]. Altvatertum.

[Randnotiz zu b)] äußerlicher Schmuck des Katholiken. Innerer Schmuck des Orthodoxen.

VIII. Abend?

„Mag alles so sein“. Dafür ist der Katholizismus gesellschaftlich, in der Orthodoxie keine Kirchlichkeit, mangels Führungsorgan. Charakter der katholischen Einheit (civitas) und der orthodoxen… Petrus als Haupt (φιλεῖν und ἀγαπᾶν)[4].

Die karitative Mission („Ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen…“, Pharisäertum, Mt 23,15)

[Randnotiz] Guettée „Glaube und Verstand“ S. 556 NB.[5]

Die Orthodoxie wird organisch eingeimpft, der Katholizismus äußerlich angezogen. Weshalb benötigt die Orthodoxie kein äußeres Organ der Einheit? Warum ist die Freiheit zulässig? Wieso wird in der Orthodoxie die Tradition wahrhafter bewahrt, als in dem „einen“ Katholizismus? Wieso konnte die Orthodoxie sich vereinigen und Widerstand leisten?

Kult. Rituale. Kunst. Stil.

Zusammenfassung.

Semenoff. Also: Die Römische Kirche als Fortführerin des Römischen Staates. Doch gibt es wirklich keinen kirchlichen, christlichen? – Es gibt ihn, doch er wird zwangsläufig entstellt. Den neuen Dogmen liegt etwas Kirchliches zugrunde, das von der Orthodoxie lebendig wahrgenommen wird. Im katholischen verzerrten sinnlichen Verstand bleibt es aber grob, stumpft ab, verwandelt sich in rationale Formeln. Selbst lebendige Keime erhalten eine falsche Richtung, was aber tut sich erst dort, wo reines Eigendenken herrscht! Man muss davonlaufen vor dem Katholizismus… Und innerhalb des Katholizismus erheben sich Stimmen. [Adam] Zernikaw, [Julian Joseph] Overbeck, [1 unleserlich] usw. Über den ganzen Verlauf der Geschichte… „der spanische General“.


[1] Der Abschnitt bezieht sich auf das auch in Deutsch erschienene Buch des polnischen Jesuitenpaters und Theologen Marian Morawski „Abende am Genfer See. Grundzüge einer einheitlichen Weltanschauung“ (dt. Freiburg im Breisgau, 1904). Florenskij führt hier das Kapitel „Gespräch am VI. Abend“ mit dem Thema „Katholizismus und Andersgläubigkeit“ fort. Anschließend folgen eine Fortsetzung zu Kapitel „Gespräch am VII. Abend“, sowie Notizen zu einem von Florenskij beabsichtigten weiteren Kapitel „Gespräch am VIII. Abend“ (das Original endet nach dem siebenten Abend). Die Gesprächspartner Semenoff, Miss Wilson, von Hainberg, Leroy und den katholischen Pater gibt es im Buch von Morawski, die übrigen führt Florenskij ein.

[2] Quellennotiz Florenskijs hierzu:

Tarife für den Ablass

Julien de Saint-Acheul, Paris, 1820 = Αιών (Athener Journal), Nr. 1525, 1526 und 1530/1857; zitiert in: Briefsammlung des Hl. Theophanes [Sobranie pisem svjatitelja Feofana], 5. Ausgabe Moskau 1899, S. 62 f., Brief 791 (unter Auslassung des Ungehörigen); Siehe jedenfalls folgenden Brief: „Papsttum – Lunge mit Schorf oder eitrig“, in: Ebenda, S. 63 (= Fußnote; Quelle ist: Bischof Theophanes: Über die Orthodoxie [O pravoslavii], Moskau 1893, S. 33)

[3] (griech.) Strafe; hier: Bußauflage

[4] Vgl. [SFW], 11. Brief, wo Florenskij über die Arten der Liebe schreibt.

[5] Guettée, René-François (Hrsg.): Glaube und Verstand [Vera i razum], o. A. 1887, Bd. 1 Teil 2, S. 556

7-1-09 Geplantes Vorlesungsprogramm für den Kurs Philosophiegeschichte

Geplantes Vorlesungsprogramm für den Kurs Philosophiegeschichte für das Schuljahr 1911/1912 [Ausschnitt]

V. Der Begriff der orthodoxen Philosophie

Westen und Osten. Katholizismus und Orthodoxie. Die jüngere europäische Philosophie als Kind des westlichen Geistes. Die Verbindung der orthodoxen mit der antiken Philosophie. Grundzüge orthodoxen Philosophierens. Vertreter des orthodoxen Philosophierens.

7-1-10 Katholizismus und Orthodoxie

6. September 1911, nachts, Sergiev Posad

Vorbemerkungen. Die Unbestimmtheit der Orthodoxie. Geistliches Leben. Geistlicher Vater und Beichtvater. Katholische Beichte. Charakter des geistlichen Lebens. Mystik. Kult.

1. Die Geschichte der Philosophie hat zwei Teile, die Geschichte der antiken und die der neuen Philosophie.

Der seit Kaiser Alexander von Mazedonien ewig fortdauernde Streit der Westler und der Slawophilen, nun wieder neu entflammt in der Literatur und wissenschaftlichen Symposien, und sogar in alltäglichen und gesellschaftlichen Strömungen („Rechte“ und „Linke“)… Woher kommt das Licht? Ex oriente oder ex occidente?

Dessen unmittelbare Fortsetzung sind Katholizismus und Orthodoxie. Wie verwandt fühlt sich dabei doch die antike Philosophie an, wie fremd dagegen die neue… Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Ost und West, die Kluft unterschiedlicher Kulturen. Warum aber sind diese Kulturen verschieden? Hier treten wir ein in die Struktur der Volksseele. Diese ist hier und dort wesentlich anders, die Fremdheit der westlichen Seele ist für uns spürbar, fühlbar, doch nicht angemessen erklärbar. Sie, die westlichen Menschen, sind Fleisch. Alles bei ihnen ist Fleisch und vom Fleische. Hieraus der Rationalismus, Mechanizismus, Sensualismus, die Technik… Impersonalismus… Die Geschichte der Philosophie und den Unterschied im Wesen unserer und ihrer Philosophie kann man nicht anders verstehen, als durch das Gefühl für die Verschiedenheit der geistlichen Strukturen. Weiter: die Philosophie a) des Raumes und b) der Zeit, richtiger: der Ewigkeit. Hieraus die Philosophie der Quantität (und nicht Qualität), das Streben nach Äußerlichem…

2. Diese Unterschiedlichkeit in der Anlage und Struktur der Seele findet ihren deutlichsten Ausdruck in den wichtigsten Werken des Lebens – im Glauben. Darin, wie die Seele auf den göttlichen Ruf reagiert, in ihren antwortenden Vibrationen auf Offenbarungen Gottes legt sie am unzweifelhaftesten und unbestreitbarsten ihr Innerstes bloß: Im Wichtigsten und Ernsthaftesten gibt es kein Verstecken mehr.

3. Sich in den Unterschied zwischen Katholizismus und Orthodoxie zu vertiefen bedeutet, auch die Ursachen der wesentlichen Verschiedenheit der (neuen) westlichen und der (antiken) östlichen Philosophie zu begreifen. Insbesondere und vorrangig ist dies zum Verständnis der westlichen Philosophie nötig. Ich werde versuchen zu belegen, dass die Philosophie stets der Ableger der entsprechenden Religion ist… Und die moderne westliche Philosophie, wie sehr sie auch mit dem Katholizismus fremdelt und wie sehr ihr dieser fremd gegenübersteht, ist eine katholische Philosophie.

4. Diese Betrachtung wird uns einen neuen Boden für unser persönliches Verhältnis zur westlichen Philosophie geben, und zur antiken Philosophie ebenso. Sind wir doch, ob wir es wollen und anerkennen oder nicht, in Wirklichkeit, im Ideal immer Orthodoxe, vielleicht schlechte, sündige, irrende (verlorene, vgl. Lk 15,32), aber doch Söhne der Orthodoxen Kirche. Wir können zugrunde gehen, aber wir können keine anderen sein. Nur in unseren Worten können wir uns als Westler darstellen und einschmeicheln; Wenn es aber ernst wird und wir dem westlichen Geist Auge in Auge gegenüberstehen, entsteht unausweichlich das Gefühl der Fremdheit, Ferne und Leere. Sind sie doch ein zwar intelligentes, talentiertes, begabtes, kultiviertes und sogar mildtätiges, aber dennoch nur – Fleisch. Wir aber sind Geist, wenn auch nicht selten ein irrender.

5. Aber wir sind undankbar, achten nicht das, was unser ist. Wir verstehen unsere Orthodoxie nicht und schätzen sie nicht. In Wahrheit aber leben wir nur durch sie. Wenn wir dann in eine Umgebung kommen, die im Wesentlichen nicht orthodox ist, nicht aus der Orthodoxie erwachsen ist, so werden wir kraftlos und leiden geistlich. Wir empfinden einen Mangel an Nahrung.

Verstehen Sie, ich spreche hier nicht von Makarius‘ „Dogmatik“ und auch nicht vom „Katechismus“ Filarets[1], nicht über Seminare und Akademien und nicht einmal vom Gottesdienst. Ich spreche von der ganzen Lebensweise, dem Geist der Lebensumstände, von Tempo und Rhythmus der Geschichte. Im Westen ist dies alles anders, für uns fremd.

6. Doch was ist Orthodoxie? Wo findet man sie? „Was ist Orthodoxie“? Als ich in die Akademie eintrat, waren die Lebensbedingungen anders. Diese Frage wurde mir zur Prüfung vorgelegt, in einem rhetorischen Sinne – es gebe sie nicht, man könne nicht darauf zeigen. Ja, mit dem Finger auf die Orthodoxie zu zeigen ist unmöglich. Auch ich konnte die Antwort nicht geben, mit dem Finger nicht darauf zeigen. Dies beunruhigte mich aber nicht, obwohl ich selbst nicht wusste, wieso nicht. Jetzt aber weiß ich es. Folgendes werde ich heute auf die Frage nach der Orthodoxie und der Kirchlichkeit antworten.

Lesung. „Säule“ S. 5-8 (aus dem Vorwort „An den Leser“):

Denn Kirchlichkeit – das ist der Name jener Zufluchtsstätte, wo die Unruhe des Herzens sich legt, die Anmaßung des Verstandes gebändigt wird und tiefe Ruhe die Vernunft ergreift. Zwar vermag niemand zu definieren, was Kirchlichkeit ist, und natürlich wird auch in Zukunft niemand dazu imstande sein. Alle, die das versuchen, widerlegen einander und negieren sich gegenseitig ihre Definitionen der Kirchlichkeit. Gerade diese Undefinierbarkeit der Kirchlichkeit, ihre Unerfassbarkeit durch logische Begriffe, ihre Unaussagbarkeit beweist, dass die Kirchlichkeit Leben ist, ein besonderes, neues, den Menschen gegebenes Leben, jedoch, wie alles Leben, dem Verstande unzugänglich.  Die Meinungsverschiedenheiten bei der Definition der Kirchlichkeit, die Möglichkeit vieler Begriffsbestimmungen, in denen von verschiedenen Seiten versucht wird, in Worten festzustellen, was Kirchlichkeit ist, diese Buntheit unvollständiger und immer ungenügender Wortformeln für die Kirchlichkeit bestätigen ihrerseits empirisch, was der Apostel schon gesagt hat; ist doch die Kirche der Leib Christi, „die Fülle (τὸ πλήρωμα) dessen, der das All in allem erfüllt“ (Eph 1, 23). Wie kann also diese Fülle, τὸ πλήρωμα, des göttlichen Lebens in den engen Sarg einer logischen Begriffsbestimmung eingebettet werden? Es wäre lächerlich zu meinen, dass diese Unmöglichkeit etwas wider das Bestehen der Kirchlichkeit beweisen könnte. Im Gegenteil wird Letzteres dadurch weit eher begründet. Insofern die Kirchlichkeit früher ist als ihre einzelnen Manifestationen, insofern sie jenes göttlich-menschliche Element ist, aus dem sich in dem geschichtlichen Gang der kirchlichen Menschheit die Rangfolgen der Sakramente, die Formulierungen der Dogmen, die kanonischen Regeln und zum Teil sogar die fließende und zeitliche Ordnung des kirchlichen Lebens sozusagen verdichten und herauskristallisieren – insofern bezieht sich vornehmlich auf diese Fülle die Prophezeiung des Apostels: „Es muss auch Parteiungen geben unter euch – δεῖ γὰρ καὶ αἱρέσεις ἐν ὑμῖν εἶναι“ (1 Kor 11, 19) – Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung von Kirchlichkeit. Nichtsdestoweniger nimmt ein jeder, welcher nicht aus der Kirche flieht, schon durch sein Leben das einheitliche Element der Kirchlichkeit in sich auf und weiß, dass es eine Kirchlichkeit gibt und was sie ist.

Dort, wo das geistliche Leben fehlt, ist etwas Äußeres zur Sicherung der Kirchlichkeit notwendig. Ein besonderes Amt, der Papst, oder eine Gesamtheit, ein System von Ämtern, die Hierarchie – das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Katholiken. Eine bestimmte konfessionelle Formel, das Symbol oder ein System von Formeln, der Text der Schrift – das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Protestanten. Letzten Endes ist hier wie dort entscheidend der Begriff – der kirchlich-juristische bei den Katholiken, der kirchlich-wissenschaftliche bei den Protestanten. Aber dadurch, dass er zum obersten Kriterium wird, macht der Begriff jede Äußerung des Lebens überflüssig. Und mehr noch als das: Weil kein Leben mit dem Begriff kommensurabel sein kann, so vollzieht sich alle Bewegung des Lebens unvermeidlich jenseits der vom Begriff bezeichneten Grenzen und erscheint dadurch schädlich, unduldbar. Für den Katholizismus (natürlich meine ich sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus in ihrem Grundprinzip) ist jede selbständige Äußerung des Lebens unkanonisch, für den Protestantismus ist sie unwissenschaftlich. Hier wie dort wird das Leben durch den Begriff beschnitten, von vornherein im Namen des Begriffes abgelehnt. Wenn man dem Katholizismus gewöhnlich die Freiheit abstreitet und sie dem Protestantismus entschieden zuschreibt, so ist beides gleich ungerecht. Auch der Katholizismus anerkennt die Freiheit, aber… eine vorher festgelegte; jedoch alles was außerhalb dieser Grenze liegt, ist ungesetzlich. Und auch der Protestantismus anerkennt den Zwang, aber… ebenfalls nur außerhalb der vorher bezeichneten Grenzen des Rationalismus; alles, was außerhalb ihrer liegt, ist unwissenschaftlich. Wenn man in dem Katholizismus den Fanatismus einer kanonischen Denkart erblicken kann, so in dem Protestantismus den nicht geringeren Fanatismus der Wissenschaftlichkeit.

Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit – ich wiederhole es – ist der beste Beweis ihrer Lebendigkeit. Natürlich sind wir nicht imstande, ein kirchliches Amt anzugeben, von welchem wir sagen könnten, dass es in sich die Kirchlichkeit vereinige; wozu dienten dann auch alle übrigen Ämter und Betätigungen der Kirche! Auch können wir keine Formel und kein Buch angeben, das das kirchliche Leben in seiner ganzen Fülle erfasst; wenn es aber ein solches Buch oder eine solche Formel gäbe, wozu wären dann alle anderen Bücher, Formeln und Betätigungen der Kirche! Es gibt keinen Begriff der Kirchlichkeit, aber es gibt die Kirchlichkeit selbst, und für jedes lebendige Glied der Kirche ist das kirchliche Leben das Bestimmteste und Greifbarste, was er kennt. Aber das kirchliche Leben lässt sich nur lebensmäßig aneignen und erfassen – nicht durch Abstraktion und verstandesmäßig. Wenn es sich als notwendig erwiese, es in irgendwelchen Begriffen auszudrücken, so wären nicht juristische und archäologische, sondern biologische und ästhetische Begriffe am passendsten. Was ist Kirchlichkeit? Sie ist ein neues Leben, ein Leben im Geiste. Welches ist das Kriterium der Echtheit dieses Lebens? Die Schönheit. Ja, es gibt eine besondere geistliche Schönheit, und, obwohl für logische Formeln unerfassbar, ist sie zugleich der einzige sichere Weg zur Bestimmung dessen, was orthodox ist und was nicht. Die Kenner dieser Schönheit sind die geistlichen Altväter, die Meister der „Kunst um der Kunst willen“, wie die heiligen Väter die Asketik bezeichnen. Die geistlichen Altväter haben eine große Fähigkeit erlangt in der Erkenntnis der wahren Beschaffenheit des geistlichen Lebens. Die orthodoxe Sinnes- und Wesensart kann wohl empfunden, aber nicht zergliedert werden; die Orthodoxie wird aufgezeigt, aber nicht bewiesen. Daher gibt es für jeden, der die Orthodoxie erfassen will, nur einen Weg – die direkte orthodoxe Erfahrung. Es wird erzählt, dass man heutzutage im Ausland das Schwimmen an Geräten erlernt, und dabei einfach auf dem Boden liegt. Gerade so kann man katholisch oder protestantisch werden nach Büchern, ohne auch nur im Geringsten mit dem Leben in Berührung zu kommen – im eigenen Arbeitszimmer. Um aber orthodox zu werden, muss man in das Element der Orthodoxie selbst eintauchen, anfangen orthodox zu leben – einen anderen Weg gibt es nicht.[2]

7. Die charakteristischen Unterschiede zwischen Katholizismus und Orthodoxie (ich nehme beide in ihren Grenzwerten, in jenem Äußersten, dem sie zustreben) [Randbemerkung: „diese Grenzen verstehen“] werden deutlich, wenn wir uns fragen, wo das eine und andere zu finden ist. Worin besteht die Orthodoxie? In der Dogmatik etwa? Oder den Metropoliten und dem Patriarchen? In der Heiligkeit, in den Brutstätten der Geistlichkeit, in den Trägern des Geistes. Die Zosima-Einsiedelei: der Altvater German[3]; der Altvater Isidor[4] – dort ist die Orthodoxie. Alles Übrige sind Einfassungen und Gewänder, doch das Wichtige der Orthodoxie ist die rechte geistliche Haltung der Seele. Außerhalb der Einflusssphäre des geistlichen Altvatertums gibt es auch keine Orthodoxie. Den Katholizismus aber findet man in der katholischen Organisation. Außerhalb der katholischen Organisation ist der Mensch kein Katholik. Was aber diese Organisation darstellt, ist ebenfalls ein besonderes Institut der Einwirkung auf die Seele. Es gibt zwei Möglichkeiten solcher Einwirkung auf die Seele: von außen oder von innen. Seiner mechanistischen, räumlichen Vorstellung von der Seele entsprechend hat der Katholizismus den ersten Weg gewählt; die Orthodoxie aber – in der Zeit, in der ewigen Unteilbarkeit – den zweiten.

8. Die Bezeichnungen des einen oder anderen Führers selbst verdeutlichen charakteristisch den Wesensunterschied. Wir haben einen geistlichen Vater. Ununterbrochenheit des Lebens, physisch wie auch geistlich. Lebendiges aus Lebendigem. So wie der leibliche Vater das Leben von Gott weitergibt, der es empfangende Sohn aber selbst lebt, eigenständig, nach den Gesetzen seiner physischen Individualität, so spendet auch der geistliche Vater geistliches Leben von Gott, bringt in Qualen und Leiden, in Trauer und Lasten ein neues Wesen in der geistlichen Welt zum Leben, erzieht es, füttert und ernährt es, doch lebt der so Geborene nach den Gesetzen seiner eigenen, in der geistlichen Geburt empfangenen geistlichen Individualität, selbst und selbständig.

9. Er ist ganz und gar geistlicher Sohn. Sein geistlicher Vater versorgt ihn, öffnet ihm den geistlichen Blick, hilft ihm, doch er kann und darf ihm nichts einreden, ihn nicht dressieren. Die Entwicklung des geistlichen Sohnes vollzieht sich in Freiheit, ohne Verunstaltung und Traumatisierung.

Ganz anders bei den Katholiken. Dort gibt es keine geistlichen Väter, Altväter, weder ihren Werken nach noch selbst nach der Bezeichnung. Sie haben den directeur de conscience, director conscientiae – einen Lenker und Korrektor des Gewissens. Dabei zeichnet die Einbildung das Bild eines Abweichens des Gewissens von einem ihm von außen vorgezeichneten Weg, oder Gleises – ein krummer Weg des Gewissens und eine Reihe äußerer Anstöße, Zugkräfte, Umstellungen, die es auf die von irgendwem vorbezeichnete Bahn zurückführen, auf die ihm bereiteten Gleise.

10. In der Orthodoxie wird von der Persönlichkeit die Wiedergeburt, Neugeburt, innere Wandlung gefordert, im Katholizismus lediglich die äußerliche Nachfolge auf einem vorbestimmten Weg. In der Orthodoxie lebt die Persönlichkeit selbst ein geistliches Leben, und von ihr gehen lebendiges Handeln und Streben aus; im Katholizismus aber handelt  sie nur getrieben durch Fremdeinwirkungen, ordnet sich lediglich einer äußeren, vorab und für alle hergestellten Form unter, in die man sie hineinpresst, wobei sie die gleiche bleibt wie vorher, und es auch niemandem in den Sinn kommt, dass sie sich selbst verändert und dass dies möglich ist. Die Orthodoxie will die Persönlichkeit heilen und vortrefflich machen, der Katholizismus aber will sie in bunte Gewänder kleiden. Die Orthodoxie will den inneren Menschen heranziehen, der Katholizismus ihn dressieren und in den Stall auf seinen vornummerierten Platz sperren.

11. Merken Sie sich bitte ein für alle Mal, dass die Idee der Persönlichkeit dem Katholizismus in einem Maße fremd ist, dass er sie einfach ignoriert, die Existenz der Persönlichkeit an sich aus den Augen verliert. Wo für Napoleon, einen Auswuchs des Papismus, alles chair à canon war, Kanonenfutter, so ist auch für den Papst, ebenso ein Napoleon, alles chair à canon, Futter für die Kanones, für die Kirchenregeln und die äußere Ordnung. Hauptsache äußerlicher Anstand und Wohlverhalten. Um die Seele geht es niemandem, und so wird sie verdorben, entweder indem sie protestiert und heuchelt (solange noch Leben in ihr ist) oder indem sie unterdrückt und versklavt wird (wenn sie stirbt).

12. Directeur de conscience! Als ob man dem Gewissen dirigieren und befehlen, Führer des Gewissens sein könnte! Gott Selbst hat nicht die Macht, das Gewissen zu verändern, denn darin, in seiner Unabhängigkeit, kommt das Bild Gottes zum Ausdruck. Die Katholiken aber versuchen, es auf ihre Weise zu verzerren. Dies führt entweder zu Heuchlerei und Räubertum, oder zu einem Zustand der Einbildung und Hypnose – Lenker und Gelenkte. Der directeur de conscience hypnotisiert seine Opfer fast, und verwandelt sie in seine willenlosen Werkzeuge, die von einer ihnen eingeredeten Idee angesteckt sind (Fanatismus). Fanatismus ist ja gerade die Ergriffenheit von einer Idee, im Gegensatz zur kreativen Inbesitznahme einer Idee. Die Idee frisst den Menschen auf, anstatt dass der Mensch eine Idee auf die Welt bringt. Die Gelenkten sind sicut cadaver, nach dem Lieblingsvergleich ihrer Seelenführer und -direktoren.

13. Die Hypnose aber wirkt insbesondere auf Frauen und steht im Zusammenhang mit der Sphäre des Geschlechtlichen; anstelle des Strebens nach geistlicher Reinheit steht das Kultivieren des Sinnenhaften und Ungesunden. Das Priesterzölibat ist nichts Zufälliges, sondern ein mächtiges Mittel der Beeinflussung der Gelenkten. Es ist der Wunsch, aus unserer angespannten Sinnlichkeit, die kein Ventil findet, etwas Pseudo-Geistliches zu machen, Pseudomystik. Sie wissen natürlich, wie häufig Fälle grober Erotik bei ihrem Wesen nach vielleicht völlig unschuldigen Verrichtungen sind.

Wenn Sie aber sagen, dass grobe Erotik eine Ausnahme, ein Missbrauch ist, so sage ich: Diese Ausnahme, dieser Missbrauch ist bezeichnend, er bestätigt die Regel. Es ist ein abusus[5], der die wahre Natur des usus[6] offenbart.

14. Schließlich ist das Wesen selbst des Verhältnisses zwischen Gewissensleiter und geleiteter Frau im Grunde Erotik, wie äußerlich anstandsvoll es auch sein mag. Die katholische Frau ist stets entweder verliebt in ihren „Direktor“ oder sie hasst ihn. Was bei uns außergewöhnliche Fälle sind (Grigorij Rasputin), ist bei ihnen eine gewöhnliche Sache.

15. Beichte. Jesuiten. Das Einwirken der Geistlichen wird zur Lenkung. Die (fremde) Seele an die Hand zu nehmen und nach eigenem Dünken zu führen – dieses Grenzziel des Katholizismus wird natürlich nicht zu jeder Zeit in gleichem Maße praktiziert. Doch wie Sie wissen, ist die ganze Geschichte des Katholizismus nichts anderes als ein langsamer Prozess der Verwandlung ihrer Kirchlichkeit in Jesuitentum, der Umbildung der lateinischen Kirche in eine mächtige Societas Jesu Christi, die mit ihren Armen nicht nur Außenstehende würgt, sondern auch die Kirche selbst. Ignatius von Loyola ist nur Symptom, denn Jesuitentum gab es auch schon vor ihm, und auch heute fallen die offiziellen Grenzen des Ordens keineswegs mit der Sphäre des Jesuitentums zusammen. Jeder der leitenden Katholiken ist mehr oder weniger Jesuit, selbst wenn er die offiziellen Jesuiten verachtet. Der ideelle Einfluss der Jesuiten ist unermesslich, und er wächst weiter. Daneben wächst aber auch der äußere Einfluss, weil sie alle die Kirche an sich reißen. Das Jesuitentum ist jedoch lediglich Phänomen und Folge der wahren Prinzipien des römischen Geistes. Es ist ein Typus des geistlichen Lebens. Die Jesuiten haben jedoch die Leitung der Seelen selbst in die Hände genommen. Ihre Lehrbücher ([Jean Pierre] Gury, [Alfonso Maria de] Liguori u.a.) sind durch den Papst als Handbücher für alle Leitenden empfohlen worden; ihre Autoritäten [Hermann] Busenbaum, [Gabriel] Vásquez, [Francisco] Suárez, [Antonios] Escobar y Mendoza, [Thomas] Sanchez u.a. sind Autoritäten für den gesamten Katholizismus. Alles am Katholizismus besonders Starke ist jesuitisch. Und die Jesuiten haben nun das Mittel gefunden, „die ganze Welt an sich zu ziehen und niemanden abzustoßen“ (Pascal). Es ist die vereinfachte Theologie, „La dévotion aisée“ (so ist einer der Aufsätze des Jesuiten [Pierre] Le Moyne[7] überschrieben).

 Worin liegt dessen Geheimnis? Samarin, Aufsätze Bd. 6 S. 92 f. Ihre Moraltheologie beschäftigt sich mit der Lösung einer Frage – was das Gesetz vom Menschen fordert, und wie man sich dieser Forderungen erwehren kann – und nur mit dieser. Die Lehre vom Gewissen: Das Geheimnis dieses Erwehrens aber liegt in den Händen gelehrter Herren. Sie haben das Gewissen gestohlen und sich so für die Bestohlenen unverzichtbar gemacht. Das unmittelbare Verhältnis der ganzheitlichen Persönlichkeit zu einem konkreten Lebensprozess, die unmittelbare Aufnahme des Lebens in sich ist im Westen durch ein vorheriges Zerlegen des Lebens in Begriffe und Formeln ersetzt worden, und sie bestimmen ihr Verhältnis nicht zum eigentlichen Leben, sondern zum Begriff. Dadurch wird die Ganzheit des Lebens zerstört, und im Anschluss werden auch die Begriffe endlos zerstückelt und zermahlen. Einteilungen und Unterteilungen, und Unterunterteilungen, Schematismus und Formalismus.


[1] Gemeint sind Makarij (Bulgakov, 1816 – 1822), Metropolit von Moskau, Autor u.a. von „Orthodox-dogmatische Theologie“ (5 Bände, Moskau 1849 – 1853), und der hl. Filaret (Drozdov, 1783—1867), Metropolit von Moskau und Kolomna, Verfasser der Schrift „Ausführlicher christlicher Katechismus“ mit über 80 Auflagen seit 1820. Der scholastische Stil dieser Werke wurde seit Beginn des 20. Jh. stark kritisiert. Vergl. Florenskij, Pavel: Dogmatismus und Dogmatik (1906), in: WA 1 S. 558 und S. 561

[2] Florenskij, Pavel: [SFW] S. 5 ff.

[3] Schemamönch German (1844 – 1923); seit 1897 Vorsteher der Zosima-Einsiedelei, die zum Sergius-Dreifaltigkeitskloster gehört

[4] Erzmönch Isidor († 1908), Geistlicher Vater Florenskijs, der ihn der Zeit seines theologischen Studiums stark prägte; Florenskij hat später unter dem Titel „Das Salz der Erde“ dessen Vita verfasst.

[5] (lat.) Missbrauch

[6] (lat.) Brauch

[7] Siehe Fußnote 5 zu7-1-04