Orthodoxie und Katholizismus

7-1-08 Abende am Genfer See

[Der Abschnitt bezieht sich auf das auch in Deutsch erschienene Buch des polnischen Jesuitenpaters und Theologen Marian Morawski „Abende am Genfer See. Grundzüge einer einheitlichen Weltanschauung“ (dt. Freiburg im Breisgau, 1904) (PDF). Florenskij führt hier das Kapitel „Gespräch am VI. Abend“ mit dem Thema „Katholizismus und Andersgläubigkeit“ fort. Anschließend folgen eine Fortsetzung zu Kapitel „Gespräch am VII. Abend“, sowie Notizen zu einem von Florenskij beabsichtigten weiteren Kapitel „Gespräch am VIII. Abend“ (das Original endet nach dem siebenten Abend). Die Gesprächspartner Semenoff, Miss Wilson, von Hainberg, Leroy und den katholischen Pater gibt es im Buch von Morawski, die übrigen führt Florenskij ein.]

Als Abschluss des VI. Abends[1]

Semenoff. Meine Herren, ich danke allen, besonders aber den Verteidigern des Katholizismus, für unser heutiges Gespräch. Sie wissen, dass ich mich überhaupt recht wenig mit Glaubensdingen beschäftigt habe, dennoch bin ich mit dem Zustand der morgenländischen Kirche vertraut. Es war deshalb für mich immer ein insgeheimer Wunsch, aus dem Munde eines wahren, außergewöhnlichen und weitsichtigen Katholiken eine Selbstbezichtigung des Katholizismus zu vernehmen. Heute ist er in Erfüllung gegangen…

Miss Wilson. In unserer Heimat neigen sich die Sympathien eher Letzterem zu… Warum haben Sie Ihr Interesse auf den für Sie fernliegenden Katholizismus gelenkt, und nicht auf die Orthodoxie in Ihrer Umgebung…? Dies ist merkwürdig.

Semenoff. Merkwürdig? Keineswegs. Das ganze Elend bei uns in der Heimat kommt von einem Überschuss der Weite und Großherzigkeit. Nachdem ich mir, wie es viele bei uns tun, die Größe der katholischen Organisation vorgestellt hatte, ohne überhaupt etwas davon zu wissen, habe ich beinahe noch als Kind für mich den Entschluss gefasst, wenn schon kirchlich, dann auch katholisch zu werden. Ich habe keinerlei Schritte dazu unternommen, diesen kennenzulernen, mich jedoch auf der Grundlage meiner Kindheitsentscheidung der Mühe entledigt, meinen eigenen Glauben zu erforschen, der mir ja nur unbewusst beigelegt wurde. Nun habe ich zu meinem Glück das vernommen, was ich schon lange hätte vernehmen sollen. Jetzt…

Der Pater. Jetzt nun hat die Stunde Göttlichen Willens geschlagen, der Ihre Hinwendung zur katholischen Religion verlangt. Und sollte es Ihnen aus irgendwelchen Gründen ungelegen sein, dies öffentlich zu tun, so werde ich Ihnen mit Freuden bei einer diskreten Lossagung vom Schisma zur Seite stehen.

Semenoff. Oh, nein, Pater, Ihr Katholiken seid doch allezeit zu aggressiv und eilfertig im Bekehren. Zudem haben Sie mich ja nicht verstanden: Schließlich wollte ich sagen, dass Ihre Reden mich… zur Orthodoxie bekehrt haben.

Hainberg. Zur Orthodoxie?!…

Semenoff. Ja, zur Orthodoxie. Ist mir doch dank der Apologie des Katholizismus seitens des Herrn Pater sowohl klargeworden, wie hoffnungslos leer die großartige Kathedrale der katholischen Seele ist, als auch, wie gemütlich es doch in meiner heimatlichen Kirche ist.

Miss Wilson. Mit dieser Metapher will Herr Semenoff offenbar ausdrücken, dass der Katholizismus die Seele unbefriedigt lässt, indem er sie lediglich durch das Grandiose seiner Intentionen erstaunt und ihr den Atem verschlägt.

Semenoff. Ja, doch viel mehr noch. So überaus hold erscheint mir nun die Orthodoxe Kirche. Doch bin ich selbst schuld, dass mir jetzt die Worte fehlen auszudrücken, was ich in meiner Seele gerade zu begreifen beginne. Weil ich selbst von dem papiernen Dom des Katholizismus geträumt habe, achtete ich den lebendigen Leib der Heimatkirche gering. Gerade erst ward mir ihre Lebendigkeit bewusst.

Hainberg. Sie wollen wohl ausdrücken, dass sich in Ihrer Seele gerade jener Prozess vollzogen hat, den es auch in der Geschichte der Kirche gab, wo die Dogmen und ihre Formulierung zuweilen infolge eines verkehrten Bewusstseins der Häretiker entstanden?

Semenoff: Mir will scheinen, dass im Katholizismus neue Dogmen auf völlig anderem Wege zutage traten, einfach nur im Interesse des Systems.

Leroy. Allerdings wäre es für uns von Interesse zu erfahren, welches Lebendige Sie in der morgenländischen Kirche sehen. Schließlich kommt man, selbst wenn der Katholizismus nicht als Ganzes akzeptabel erscheint, nicht umhin anzuerkennen, dass er in sich eine mächtige kulturelle Kraft besitzt.

Semenoff. Meine Herren, auch für mich selbst wäre es von Vorteil, mir all dessen bewusst zu werden, was ich in meiner Seele zu entdecken beginne. Der Pater hat ja den Wunsch geäußert, uns in unserem nächsten Gespräch die allgemeinen Vorzüge des Katholizismus über die Orthodoxie darzulegen. Vielleicht geben Sie Ihre Zustimmung, den Herrn Kireevskij in diese Runde aufzunehmen, einen Menschen, der mehr als ich auf den Gebieten der Theologie bewandert und wahrhaft der Orthodoxie ergeben ist. Er weilt hier auf der Durchfahrt von seinem Kurort, wo er sich zur Heilung von irgendeiner schwierigen und merkwürdigen Krankheit aufhielt, deren wahre Ursache die Ärzte nicht ermitteln konnten. Eigentlich wollte er sich schon auf den Weg in seine Heimat machen, doch hat sich sein Zustand unterwegs so verschlechtert, dass er eine Pause einlegen muss. Wenn es ihm seine Gesundheit nur erlaubt, so werde ich ihn bitten, hierher zu kommen.

Alle erklärten ihre Zustimmung und verabschiedeten sich herzlich. Nur der Pater schien etwas auf dem Herzen zu haben, etwa als stünde ihm eine Entscheidungsschlacht bevor.

Katholizismus

Kritischer Katholik. Und das einfache Volk?

Ein anderer. Ja, darüber lässt sich leichter reden. Sie sprechen von Prinzipien. Nehmen wir aber die Wirklichkeit. Ist wirklich irgendein katholischer Bauer so dermaßen befleckt, wie Sie ihn darstellen? Ist er wirklich so verdorben? Sollte ein orthodoxer Bauer wirklich irgendwelche außergewöhnlichen Vorzüge ihm gegenüber haben?

Orthodoxer. Lassen wir diese Fragen. Wie hoch auch immer ich die slawo- und russophilen Strömungen schätze, schien es mir doch stets riskant, sie als Fixpunkt der Orthodoxie überzubelasten. Auch wenn ich für mich selbst denke, dass die Slawophilen recht damit haben, und der orthodoxe Bauer sehr wohl allen anderen gegenüber einen geistlichen Vorzug aufweist. Doch will ich darauf nicht beharren…

Katholik-Jesuit. Heißt das, Sie geben zu, dass der katholische Bauer keinesfalls schlechter ist als der orthodoxe?

Orthodoxer: Um des einfacheren Gesprächs willen gebe ich nach…

Katholik. Wenn Sie sich jedoch mehr in unser Leben vertieften, so würden Sie einverstanden sein, dass unser Bauer höher steht als Ihrer, dass er der Kirche ergebener ist…

Der andere. Einverstanden.

Orthodoxer. Nun, so ist es immer mit Ihnen. Reiche den kleinen Finger, und Sie reißen einem den Arm aus.

Orthodoxer. Nun ja, das ist nicht wichtig… Meinetwegen besser… Doch geht es nicht darum. Um die religiöse Kraft zu verstehen, muss man das Phänomen grenzwertig betrachten, in seiner höchsten Ausprägung, nicht in seinen anfänglichen Formen. Der Embryo einer Katze und der eines Kindes unterscheiden sich in einem gewissen Entwicklungsstadium fast nicht voneinander. Wenn die Entwicklung voranschreitet, tritt der Unterschied deutlich hervor. Genauso können auch ein katholischer und ein orthodoxer Bauer fast ohne Unterschied sein, weil sie ja nur Embryonen eines echten, entwickelten Orthodoxen beziehungsweise Katholiken sind. An diesen höheren Punkten der Entwicklung oder zumindest bei hinreichender Höhe des Aufstiegs werden die tiefen Unterschiede der Seelenstruktur der einen und anderen Weise geistlichen Lebens deutlich hervortreten.

Miss Wilson. Was sollen denn das für höchste Punkte der Entwicklung sein?

Orthodoxer. Die Heiligen. Die Heiligen des Katholizismus und die der Orthodoxie, oder sogar noch bestimmter, unter allen Heiligen die Asketen, die Ehrwürdigen, die auf dem Boden des Katholizismus und dem der Orthodoxie gewachsen sind.

Freund der Orthodoxie. Hier könnte man noch die Höhepunkte des abstrakten kirchlichen Bewusstseins anfügen, die Schlussfolgerungen der einen oder anderen Konfession(?).

VI. Abend, Ende gesondert. Kleinere Repliken von Semenoff, ein summarischer Einwand gegen die Einzelfragen.

VII. Abend

a) Unterschied der „Geister“ des Katholizismus und der Orthodoxie. Zwei nicht ineinander überführbare Schichten: geistliches Leben und katholische Kultur. Katholizismus als Pseudokirche und Protestantismus als Kirchenlosigkeit. Katholizismus als verirrte Kirche, Protestantismus als blinde. Der Katholizismus lebt, jedoch falsch; der Protestantismus zerfällt offensichtlich.

b) Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus als Prinzipien des persönlichen Lebens. Das Gefühlsbetonte des Katholizismus, Rationalismus… Mystik und Pseudomystik. Stigmatisation (im Osten keine. NB). Fantasiererei. Äußerliche Nachahmung Christi; der Orthodoxe „arbeitet an seiner Erlösung“, verändert seine Persönlichkeit. „Thomas von Kempen“, Teresa [von Ávila], Katharina [von Siena], Jeanne [d’Arc]. Sogar Franziskus („anstatt Christus“), der größte. Ignatius von Loyola, seine Unterweisungen (vergleiche mit Theophanes [dem Klausner]). Die katholische Beichte und das Institut der Bußstrafe[2]. Der Begriff der ἐπιτιμία[3]. Altvatertum.

[Randnotiz zu b)] äußerlicher Schmuck des Katholiken. Innerer Schmuck des Orthodoxen.

VIII. Abend?

„Mag alles so sein“. Dafür ist der Katholizismus gesellschaftlich, in der Orthodoxie keine Kirchlichkeit, mangels Führungsorgan. Charakter der katholischen Einheit (civitas) und der orthodoxen… Petrus als Haupt (φιλεῖν und ἀγαπᾶν)[4].

Die karitative Mission („Ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen…“, Pharisäertum, Mt 23,15)

[Randnotiz] Guettée „Glaube und Verstand“ S. 556 NB.[5]

Die Orthodoxie wird organisch eingeimpft, der Katholizismus äußerlich angezogen. Weshalb benötigt die Orthodoxie kein äußeres Organ der Einheit? Warum ist die Freiheit zulässig? Wieso wird in der Orthodoxie die Tradition wahrhafter bewahrt, als in dem „einen“ Katholizismus? Wieso konnte die Orthodoxie sich vereinigen und Widerstand leisten?

Kult. Rituale. Kunst. Stil.

Zusammenfassung.

Semenoff. Also: Die Römische Kirche als Fortführerin des Römischen Staates. Doch gibt es wirklich keinen kirchlichen, christlichen? – Es gibt ihn, doch er wird zwangsläufig entstellt. Den neuen Dogmen liegt etwas Kirchliches zugrunde, das von der Orthodoxie lebendig wahrgenommen wird. Im katholischen verzerrten sinnlichen Verstand bleibt es aber grob, stumpft ab, verwandelt sich in rationale Formeln. Selbst lebendige Keime erhalten eine falsche Richtung, was aber tut sich erst dort, wo reines Eigendenken herrscht! Man muss davonlaufen vor dem Katholizismus… Und innerhalb des Katholizismus erheben sich Stimmen. [Adam] Zernikaw, [Julian Joseph] Overbeck, [1 unleserlich] usw. Über den ganzen Verlauf der Geschichte… „der spanische General“.


[1] Der Abschnitt bezieht sich auf das auch in Deutsch erschienene Buch des polnischen Jesuitenpaters und Theologen Marian Morawski „Abende am Genfer See. Grundzüge einer einheitlichen Weltanschauung“ (dt. Freiburg im Breisgau, 1904). Florenskij führt hier das Kapitel „Gespräch am VI. Abend“ mit dem Thema „Katholizismus und Andersgläubigkeit“ fort. Anschließend folgen eine Fortsetzung zu Kapitel „Gespräch am VII. Abend“, sowie Notizen zu einem von Florenskij beabsichtigten weiteren Kapitel „Gespräch am VIII. Abend“ (das Original endet nach dem siebenten Abend). Die Gesprächspartner Semenoff, Miss Wilson, von Hainberg, Leroy und den katholischen Pater gibt es im Buch von Morawski, die übrigen führt Florenskij ein.

[2] Quellennotiz Florenskijs hierzu:

Tarife für den Ablass

Julien de Saint-Acheul, Paris, 1820 = Αιών (Athener Journal), Nr. 1525, 1526 und 1530/1857; zitiert in: Briefsammlung des Hl. Theophanes [Sobranie pisem svjatitelja Feofana], 5. Ausgabe Moskau 1899, S. 62 f., Brief 791 (unter Auslassung des Ungehörigen); Siehe jedenfalls folgenden Brief: „Papsttum – Lunge mit Schorf oder eitrig“, in: Ebenda, S. 63 (= Fußnote; Quelle ist: Bischof Theophanes: Über die Orthodoxie [O pravoslavii], Moskau 1893, S. 33)

[3] (griech.) Strafe; hier: Bußauflage

[4] Vgl. [SFW], 11. Brief, wo Florenskij über die Arten der Liebe schreibt.

[5] Guettée, René-François (Hrsg.): Glaube und Verstand [Vera i razum], o. A. 1887, Bd. 1 Teil 2, S. 556

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