II Anlage 4 – Bibliographische Auszüge aus der Mappe „SIN“ mit Kommentaren

„SIN“ ist ein Kürzel, mit dem Florenski die drei Aspekte menschlicher Tätigkeit ausdrückt:

N – (notiones) sind Gedanken, Produkte menschlicher geistiger Kreativität: ihr Sinn ist augenfällig, ihre Materialität dagegen beweisbedürftig.

I – (instrumenta) sind Werkzeuge, Waffen usw. – gegenständliche Produkte menschlichen Schaffens: ihre Existenz ist evident, ihr Sinn dagegen erklärungs- und beweisbedürftig.

S – (sacra) sind heilige, geheiligte, geweihte Produkte menschlichen (besser: synergischen gott-menschlichen) Handelns, in denen Sinn und Form zusammenfinden.

Je nach führendem Aspekt ergeben sich idealistisch (18.-19. Jh.), materialistisch (19.-20. Jh) oder sakral (Urzeit, Gemeinde, Zukunft) geprägte Gesellschaftsordnungen.


2-4-01 Mythos

Mythen sind Zeugnisse von Ereignissen, die sich im religiösen Bewusstsein vollzogen haben. (P. Leont‘ev, Das mythische Griechenland und Italien)[1]

„Der Mythos ist der verbale Ausdruck für eine Darstellung (Apperzeption), bei der dem zu erklärenden, nur subjektive Bedeutung zukommenden Bild Objektivität und ein wirkliches Sein innerhalb des Darzustellenden zugeschrieben wird.“ (A. A. Potebnja)

Potebnja, Aleksandr Afanas’evič: Aus den Konzeptnotizen von A. A. Potebnja über den Mythos [Iz černovych zametok A. A. Potebni o mife], in: Fragen zur Theorie und Psychologie von Kreativität [Voprosy teorii i psichologii tvorčestva] Band 5, Char‘kov 1914 (PDF ru), S. 503

[1] Vgl. Leont’ev, P.: Propyläen: Sammlung von Artikeln über das klassische Altertum [Propilei: Sbornik statej po klassičeskoj drevnosti], Moskau 1851-1856

2-4-02 SIN

Liberalien. Bezeichnung für Festtage zu Ehren von Bacchus, die zum 17. März auf offenem Feld begangen wurden, über einen ganzen Monat hinweg andauerten… An diesem Tag wurde öffentlich gespeist und jeder hatte die Freiheit zu sagen, was er wollte.

(aus: Konzept eines Wörterbuchs der Wahrsagungen und Orakelsprüche, heiligen Feste und Opferdarbringungen, die es bei den alten Griechen und Römern gab.)[1]

NB. Möglich, dass dies gerade die Herkunft des Wortes liberal (liberalis) ist. Liberal, libertas – möglich, dass die Freiheit kultische Bedeutung hat: der zu Liber gehörende [Kult], wenn „jeder die Freiheit hat zu sagen, was er will“.


[1] o. V.: Konzept eines Wörterbuchs der Wahrsagungen und Orakelsprüche, heiligen Feste und Opferdarbringungen, die es bei den alten Griechen und Römern gab. [Opyt slovarja gadanij i proricališč, svjaščenych prazdnikov i žertvoprinošenij, suščestvovavšich u drevnich grekov i rimljan], Sankt-Peterburg 1830, S. 39

2-4-03 SIN. Astrologische Begriffe

Astrologische Begriffe,

die in verschiedenen Kulten erhalten sind und allgemeingültige Bedeutung erlangt haben:

Französisch:

désastre
malôtru (das provenzialische malatue)
considération
jovial
bien luné, mal luné

Die Wochentage

Englisch:

saturnine
moonstruck

Italienisch:

sciagurato (ex augurio)

Russisch:

„planida“ [russ.: Schicksal; von Planet abgeleitet]: vgl.: „Das ist eben mein Schicksal.“ Oder „Er ist unter diesem Stern geboren.“
„zvezda“ [Stern]
infljuėncija, vlijanie [Einfluss]
aspekt
ėkzal’tacija
apeks (Apex – rituelles Stäbchen praktizierender Auguren, mit dem die Himmelsrichtungen markiert wurden)
oppozicija

Hufeisen, Halbmond

„Nachrichten der Russischen Akademie der Wissenschaften“ Nr. 5/1918[1]

V. V. Bartol‘d[2]: „Zur Frage des Halbmondes als Symbol des Islam“[3]: Ursprünglich besaß der Halbmond eine andere Bedeutung, als später.

Ja. I. Smirnov[4] vermutete:

Der zunehmende Mond auf [sass]anidischen Moscheen, wie auf den Selschukenbauten in Kleinasien, konnte ein Herrschaftssymbol sein und kein religiöses, da die Schaddadiden Vasallen der Seldschuken waren.

V. Thomsen[5] sprach die Vermutung aus, dass der Halbmond weit vor dem Islam, noch im 8. Jhd., zum Emblem der Türken wurde, Th. P. Hughes[6] dagegen, dass die Türken dieses Symbol von den Byzantinern übernommen haben, und dies erst nach der Eroberung Konstantinopels.

Jedenfalls war der Halbmond als religiöses Symbol „nicht für den gesamten Islam charakteristisch, sondern speziell für den türkisch-osmanischen, und z.B. auf den turkestanischen Moscheen bis zur russischen Eroberung nicht anzutreffen.“ Die Mondsichel – Motiv der sassanidischen Kunst und wahrscheinlich der sassanidischen Heraldik.

Halbmond – Talisman

Im Halbmond hat man nicht nur den Himmelkörper gesehen, sondern auch die Darstellung eines Schlachtrosses („kāfir“ = Hufeisen, Mondsichel). Also:

Halbmond = Hufbeschlag 
(Das Hufeisen wurde z.T. als Halbmond geheiligt.)
?
Konnte der Hufbeschlag an den Pferdefüßen nicht ein magisches Instrument (Bogen?) gegen Verwünschungen und allerlei Hexenwerk gewesen sein?


[1] Nachrichten der Russischen Akademie der Wissenschaften [Izvestija Rossijskoj Akademii nauk], Nr. 5/1918 Serie VI, 1. April, S. 475 – 477

[2] Vasilij Vladimirovič Bartol’d (1869 – 1930), russischer Orientalist und Historiker

[3] Vergl.: Bartol’d, Vasilij Vladimirovič: Werke, Band 6 – Schriften zur Geschichte des Islam und des Arabischen Kalifats [Raboty po istorii islama i Arabskogo chalifata], Moskau 1966 (PDF ru), S. 489 – 491

[4] Jakov Ivanovič Smirnov (1869 – 1918), russischer Kunsthistoriker und Archäologe

[5] Vilhelm Ludwig Peter Thomsen (1842 – 1927), dänischer Sprachforscher

[6] Thomas Patrick Hughes (1838 – 1911), britischer anglikanischer Missionar, wirkte über 20 Jahre lang in Peshawar, Britisch Indien (heute Pakistan)

2-4-04 Gedächtnis. Mysterien.

Gedächtnis. Mysterien. δέπας ἀμφικύπελλον[1].

In den orphischen Mysterien dienten zwei Becher (κρατήρ) und ein Spiegel als Symbol für den Fall und die Erneuerung der Seele. Der Genuss des Tranks des Vergessens aus dem ersten Becher war das Zeichen dafür, dass die Seele in der Schau der Sinneswelt, welche sich wie in einem Spiegel in ihr reflektiert, von deren verführerischen Bildern abgelenkt wird, die Erinnerung an das Überirdische verliert und in die Fesseln des Körpers hinabsinkt. Der Genuss aus dem anderen gab dagegen gewissermaßen das Gedächtnis zurück und gewährt die Wiedergeburt der Seele für die verlorene Seligkeit. Siehe Creuzer, IV, 130.

(P. Miloslavskij, Die antike heidnische Lehre von der Seele, die Seelenwanderungen und -migrationen und ihre Spuren in den ersten Jahrhunderten des Christentums)[2]

Ist hier etwa die Rede nicht von zwei Bechern, sondern von einem Doppelbecher, „ἀμφικύπελλον δέπας?

Vergleiche die zwei Quellen Puškins[3].


[1] wörtl.: doppelhenkliger Becher; zuerst bei Homer belegt. Allerdings meint Florenskij die ebenfalls so bezeichnete Form eines am Griff verbundenen Doppelbechers, wie von ihm skizziert.
Eine Abbildung findet man etwa bei Rambach, Jörg: Die Ausgrabung von zwei mittelhelladisch I-zeitlichen Grabtumuli in der Flur Kastroulia bei Ellinika (Alt-Thouria) in Messenien. In: Ancestral Landscape. Burial mounds in the Copper and Bronze Ages, Proceedings of the International Conference held in Udine, May 15th-18th 2008. Lyon 2012. S. 471):

[2] Miloslavskij, P.: Die antike heidnische Lehre von der Seele, die Seelenwanderungen und -migrationen und ihre Spuren in den ersten Jahrhunderten des Christentums [Drevnee jazyčeskoe učenie o duše, o stranstvovanijach i pereselenijach duš i sledy ego v pervyje veka christianstva], Kazan 1873, S. 183, Fußnote 1.

[3] vermutl. ein Verweis auf eine Stelle in „Ruslan und Ljudmila“, 6. Lied, in der von zwei Quellen die Rede ist, einer „lebendigen“ und einer „toten“:

И в той долине два ключа:
Один течет волной живою,
По камням весело журча,
Тот льется мертвою водою;

С двумя кувшинами пустыми
Предстал отшельник перед ними;
Прервали духи давний сон
И удалились, страха полны.
Склонившись, погружает он
Сосуды в девственные волны;
Наполнил, в воздухе пропал
И очутился в два мгновенья
В долине, где Руслан лежал
В крови, безгласный, без движенья;
И стал над рыцарем старик,
И вспрыснул мертвою водою,
И раны засияли вмиг,
И труп чудесной красотою
Процвел; тогда водой живою
Героя старец окропил,
И бодрый, полный новых сил,
Трепеща жизнью молодою,
Встает Руслан, на ясный день
Очами жадными взирает,
Как безобразный сон, как тень,
Пред ним минувшее мелькает.

http://pushkin-lit.ru/pushkin/text/ruslan-i-lyudmila/pesn-shestaya.htm

2-4-05

A. Vetuchov[1]: Notizen aus Anlass des Buches von Prof. Pogodin „Sprache als Schaffen“[2]:

In Kinderzeichnungen, die ein Haus darstellen, ist das Wichtigste die Rauchsäule, der Schornstein, das Wort „dom“ [russ.: Haus] aber führt, soweit es uns die sprachgeschichtlichen Untersuchungen in der gesamten indoeuropäischen Gruppe konserviert haben, zu der Bedeutung dhumas, fumeé, dampfen [russ.: dym = Dampf, Rauch]; sie malten etwas „dym“ und dazu das Übrige.

Vetuchov, A.: Notizen aus Anlass des Buches von Prof. Pogodin „Sprache als Schaffen“ [Zametki po povodu knigi prof. Pogodina „Jazyk kak tvorčestvo“], Sergijev Posad 1913, S. 30; vergl.: Florenskij, Pavel: Die ersten Schritte der Philosophie [Pervye šagi filosofii], in: Werke in 4 Bänden, Band 2, Moskau 1996, S. 118 – 122

Kinder haben das Überkommene bewahrt. Stanley Hall[2] (Stadien der Entwicklung).


[1] Aleksej Vasil’evič Vetuchov (1869 – 1941), russisch-ukrainischer Sprachwissenschaftler

[2] Granville Stanley Hall (1846 – 1924), US-amerikanischer Psychologe