7-1-10 Katholizismus und Orthodoxie
6. September 1911, nachts, Sergiev Posad
Vorbemerkungen. Die Unbestimmtheit der Orthodoxie. Geistliches Leben. Geistlicher Vater und Beichtvater. Katholische Beichte. Charakter des geistlichen Lebens. Mystik. Kult.
1. Die Geschichte der Philosophie hat zwei Teile, die Geschichte der antiken und die der neuen Philosophie.
Der seit Kaiser Alexander von Mazedonien ewig fortdauernde Streit der Westler und der Slawophilen, nun wieder neu entflammt in der Literatur und wissenschaftlichen Symposien, und sogar in alltäglichen und gesellschaftlichen Strömungen („Rechte“ und „Linke“)… Woher kommt das Licht? Ex oriente oder ex occidente?
Dessen unmittelbare Fortsetzung sind Katholizismus und Orthodoxie. Wie verwandt fühlt sich dabei doch die antike Philosophie an, wie fremd dagegen die neue… Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Ost und West, die Kluft unterschiedlicher Kulturen. Warum aber sind diese Kulturen verschieden? Hier treten wir ein in die Struktur der Volksseele. Diese ist hier und dort wesentlich anders, die Fremdheit der westlichen Seele ist für uns spürbar, fühlbar, doch nicht angemessen erklärbar. Sie, die westlichen Menschen, sind Fleisch. Alles bei ihnen ist Fleisch und vom Fleische. Hieraus der Rationalismus, Mechanizismus, Sensualismus, die Technik… Impersonalismus… Die Geschichte der Philosophie und den Unterschied im Wesen unserer und ihrer Philosophie kann man nicht anders verstehen, als durch das Gefühl für die Verschiedenheit der geistlichen Strukturen. Weiter: die Philosophie a) des Raumes und b) der Zeit, richtiger: der Ewigkeit. Hieraus die Philosophie der Quantität (und nicht Qualität), das Streben nach Äußerlichem…
2. Diese Unterschiedlichkeit in der Anlage und Struktur der Seele findet ihren deutlichsten Ausdruck in den wichtigsten Werken des Lebens – im Glauben. Darin, wie die Seele auf den göttlichen Ruf reagiert, in ihren antwortenden Vibrationen auf Offenbarungen Gottes legt sie am unzweifelhaftesten und unbestreitbarsten ihr Innerstes bloß: Im Wichtigsten und Ernsthaftesten gibt es kein Verstecken mehr.
3. Sich in den Unterschied zwischen Katholizismus und Orthodoxie zu vertiefen bedeutet, auch die Ursachen der wesentlichen Verschiedenheit der (neuen) westlichen und der (antiken) östlichen Philosophie zu begreifen. Insbesondere und vorrangig ist dies zum Verständnis der westlichen Philosophie nötig. Ich werde versuchen zu belegen, dass die Philosophie stets der Ableger der entsprechenden Religion ist… Und die moderne westliche Philosophie, wie sehr sie auch mit dem Katholizismus fremdelt und wie sehr ihr dieser fremd gegenübersteht, ist eine katholische Philosophie.
4. Diese Betrachtung wird uns einen neuen Boden für unser persönliches Verhältnis zur westlichen Philosophie geben, und zur antiken Philosophie ebenso. Sind wir doch, ob wir es wollen und anerkennen oder nicht, in Wirklichkeit, im Ideal immer Orthodoxe, vielleicht schlechte, sündige, irrende (verlorene, vgl. Lk 15,32), aber doch Söhne der Orthodoxen Kirche. Wir können zugrunde gehen, aber wir können keine anderen sein. Nur in unseren Worten können wir uns als Westler darstellen und einschmeicheln; Wenn es aber ernst wird und wir dem westlichen Geist Auge in Auge gegenüberstehen, entsteht unausweichlich das Gefühl der Fremdheit, Ferne und Leere. Sind sie doch ein zwar intelligentes, talentiertes, begabtes, kultiviertes und sogar mildtätiges, aber dennoch nur – Fleisch. Wir aber sind Geist, wenn auch nicht selten ein irrender.
5. Aber wir sind undankbar, achten nicht das, was unser ist. Wir verstehen unsere Orthodoxie nicht und schätzen sie nicht. In Wahrheit aber leben wir nur durch sie. Wenn wir dann in eine Umgebung kommen, die im Wesentlichen nicht orthodox ist, nicht aus der Orthodoxie erwachsen ist, so werden wir kraftlos und leiden geistlich. Wir empfinden einen Mangel an Nahrung.
Verstehen Sie, ich spreche hier nicht von Makarius‘ „Dogmatik“ und auch nicht vom „Katechismus“ Filarets[1], nicht über Seminare und Akademien und nicht einmal vom Gottesdienst. Ich spreche von der ganzen Lebensweise, dem Geist der Lebensumstände, von Tempo und Rhythmus der Geschichte. Im Westen ist dies alles anders, für uns fremd.
6. Doch was ist Orthodoxie? Wo findet man sie? „Was ist Orthodoxie“? Als ich in die Akademie eintrat, waren die Lebensbedingungen anders. Diese Frage wurde mir zur Prüfung vorgelegt, in einem rhetorischen Sinne – es gebe sie nicht, man könne nicht darauf zeigen. Ja, mit dem Finger auf die Orthodoxie zu zeigen ist unmöglich. Auch ich konnte die Antwort nicht geben, mit dem Finger nicht darauf zeigen. Dies beunruhigte mich aber nicht, obwohl ich selbst nicht wusste, wieso nicht. Jetzt aber weiß ich es. Folgendes werde ich heute auf die Frage nach der Orthodoxie und der Kirchlichkeit antworten.
Lesung. „Säule“ S. 5-8 (aus dem Vorwort „An den Leser“):
Denn Kirchlichkeit – das ist der Name jener Zufluchtsstätte, wo die Unruhe des Herzens sich legt, die Anmaßung des Verstandes gebändigt wird und tiefe Ruhe die Vernunft ergreift. Zwar vermag niemand zu definieren, was Kirchlichkeit ist, und natürlich wird auch in Zukunft niemand dazu imstande sein. Alle, die das versuchen, widerlegen einander und negieren sich gegenseitig ihre Definitionen der Kirchlichkeit. Gerade diese Undefinierbarkeit der Kirchlichkeit, ihre Unerfassbarkeit durch logische Begriffe, ihre Unaussagbarkeit beweist, dass die Kirchlichkeit Leben ist, ein besonderes, neues, den Menschen gegebenes Leben, jedoch, wie alles Leben, dem Verstande unzugänglich. Die Meinungsverschiedenheiten bei der Definition der Kirchlichkeit, die Möglichkeit vieler Begriffsbestimmungen, in denen von verschiedenen Seiten versucht wird, in Worten festzustellen, was Kirchlichkeit ist, diese Buntheit unvollständiger und immer ungenügender Wortformeln für die Kirchlichkeit bestätigen ihrerseits empirisch, was der Apostel schon gesagt hat; ist doch die Kirche der Leib Christi, „die Fülle (τὸ πλήρωμα) dessen, der das All in allem erfüllt“ (Eph 1, 23). Wie kann also diese Fülle, τὸ πλήρωμα, des göttlichen Lebens in den engen Sarg einer logischen Begriffsbestimmung eingebettet werden? Es wäre lächerlich zu meinen, dass diese Unmöglichkeit etwas wider das Bestehen der Kirchlichkeit beweisen könnte. Im Gegenteil wird Letzteres dadurch weit eher begründet. Insofern die Kirchlichkeit früher ist als ihre einzelnen Manifestationen, insofern sie jenes göttlich-menschliche Element ist, aus dem sich in dem geschichtlichen Gang der kirchlichen Menschheit die Rangfolgen der Sakramente, die Formulierungen der Dogmen, die kanonischen Regeln und zum Teil sogar die fließende und zeitliche Ordnung des kirchlichen Lebens sozusagen verdichten und herauskristallisieren – insofern bezieht sich vornehmlich auf diese Fülle die Prophezeiung des Apostels: „Es muss auch Parteiungen geben unter euch – δεῖ γὰρ καὶ αἱρέσεις ἐν ὑμῖν εἶναι“ (1 Kor 11, 19) – Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung von Kirchlichkeit. Nichtsdestoweniger nimmt ein jeder, welcher nicht aus der Kirche flieht, schon durch sein Leben das einheitliche Element der Kirchlichkeit in sich auf und weiß, dass es eine Kirchlichkeit gibt und was sie ist.
Dort, wo das geistliche Leben fehlt, ist etwas Äußeres zur Sicherung der Kirchlichkeit notwendig. Ein besonderes Amt, der Papst, oder eine Gesamtheit, ein System von Ämtern, die Hierarchie – das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Katholiken. Eine bestimmte konfessionelle Formel, das Symbol oder ein System von Formeln, der Text der Schrift – das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Protestanten. Letzten Endes ist hier wie dort entscheidend der Begriff – der kirchlich-juristische bei den Katholiken, der kirchlich-wissenschaftliche bei den Protestanten. Aber dadurch, dass er zum obersten Kriterium wird, macht der Begriff jede Äußerung des Lebens überflüssig. Und mehr noch als das: Weil kein Leben mit dem Begriff kommensurabel sein kann, so vollzieht sich alle Bewegung des Lebens unvermeidlich jenseits der vom Begriff bezeichneten Grenzen und erscheint dadurch schädlich, unduldbar. Für den Katholizismus (natürlich meine ich sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus in ihrem Grundprinzip) ist jede selbständige Äußerung des Lebens unkanonisch, für den Protestantismus ist sie unwissenschaftlich. Hier wie dort wird das Leben durch den Begriff beschnitten, von vornherein im Namen des Begriffes abgelehnt. Wenn man dem Katholizismus gewöhnlich die Freiheit abstreitet und sie dem Protestantismus entschieden zuschreibt, so ist beides gleich ungerecht. Auch der Katholizismus anerkennt die Freiheit, aber… eine vorher festgelegte; jedoch alles was außerhalb dieser Grenze liegt, ist ungesetzlich. Und auch der Protestantismus anerkennt den Zwang, aber… ebenfalls nur außerhalb der vorher bezeichneten Grenzen des Rationalismus; alles, was außerhalb ihrer liegt, ist unwissenschaftlich. Wenn man in dem Katholizismus den Fanatismus einer kanonischen Denkart erblicken kann, so in dem Protestantismus den nicht geringeren Fanatismus der Wissenschaftlichkeit.
Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit – ich wiederhole es – ist der beste Beweis ihrer Lebendigkeit. Natürlich sind wir nicht imstande, ein kirchliches Amt anzugeben, von welchem wir sagen könnten, dass es in sich die Kirchlichkeit vereinige; wozu dienten dann auch alle übrigen Ämter und Betätigungen der Kirche! Auch können wir keine Formel und kein Buch angeben, das das kirchliche Leben in seiner ganzen Fülle erfasst; wenn es aber ein solches Buch oder eine solche Formel gäbe, wozu wären dann alle anderen Bücher, Formeln und Betätigungen der Kirche! Es gibt keinen Begriff der Kirchlichkeit, aber es gibt die Kirchlichkeit selbst, und für jedes lebendige Glied der Kirche ist das kirchliche Leben das Bestimmteste und Greifbarste, was er kennt. Aber das kirchliche Leben lässt sich nur lebensmäßig aneignen und erfassen – nicht durch Abstraktion und verstandesmäßig. Wenn es sich als notwendig erwiese, es in irgendwelchen Begriffen auszudrücken, so wären nicht juristische und archäologische, sondern biologische und ästhetische Begriffe am passendsten. Was ist Kirchlichkeit? Sie ist ein neues Leben, ein Leben im Geiste. Welches ist das Kriterium der Echtheit dieses Lebens? Die Schönheit. Ja, es gibt eine besondere geistliche Schönheit, und, obwohl für logische Formeln unerfassbar, ist sie zugleich der einzige sichere Weg zur Bestimmung dessen, was orthodox ist und was nicht. Die Kenner dieser Schönheit sind die geistlichen Altväter, die Meister der „Kunst um der Kunst willen“, wie die heiligen Väter die Asketik bezeichnen. Die geistlichen Altväter haben eine große Fähigkeit erlangt in der Erkenntnis der wahren Beschaffenheit des geistlichen Lebens. Die orthodoxe Sinnes- und Wesensart kann wohl empfunden, aber nicht zergliedert werden; die Orthodoxie wird aufgezeigt, aber nicht bewiesen. Daher gibt es für jeden, der die Orthodoxie erfassen will, nur einen Weg – die direkte orthodoxe Erfahrung. Es wird erzählt, dass man heutzutage im Ausland das Schwimmen an Geräten erlernt, und dabei einfach auf dem Boden liegt. Gerade so kann man katholisch oder protestantisch werden nach Büchern, ohne auch nur im Geringsten mit dem Leben in Berührung zu kommen – im eigenen Arbeitszimmer. Um aber orthodox zu werden, muss man in das Element der Orthodoxie selbst eintauchen, anfangen orthodox zu leben – einen anderen Weg gibt es nicht.[2]
7. Die charakteristischen Unterschiede zwischen Katholizismus und Orthodoxie (ich nehme beide in ihren Grenzwerten, in jenem Äußersten, dem sie zustreben) [Randbemerkung: „diese Grenzen verstehen“] werden deutlich, wenn wir uns fragen, wo das eine und andere zu finden ist. Worin besteht die Orthodoxie? In der Dogmatik etwa? Oder den Metropoliten und dem Patriarchen? In der Heiligkeit, in den Brutstätten der Geistlichkeit, in den Trägern des Geistes. Die Zosima-Einsiedelei: der Altvater German[3]; der Altvater Isidor[4] – dort ist die Orthodoxie. Alles Übrige sind Einfassungen und Gewänder, doch das Wichtige der Orthodoxie ist die rechte geistliche Haltung der Seele. Außerhalb der Einflusssphäre des geistlichen Altvatertums gibt es auch keine Orthodoxie. Den Katholizismus aber findet man in der katholischen Organisation. Außerhalb der katholischen Organisation ist der Mensch kein Katholik. Was aber diese Organisation darstellt, ist ebenfalls ein besonderes Institut der Einwirkung auf die Seele. Es gibt zwei Möglichkeiten solcher Einwirkung auf die Seele: von außen oder von innen. Seiner mechanistischen, räumlichen Vorstellung von der Seele entsprechend hat der Katholizismus den ersten Weg gewählt; die Orthodoxie aber – in der Zeit, in der ewigen Unteilbarkeit – den zweiten.
8. Die Bezeichnungen des einen oder anderen Führers selbst verdeutlichen charakteristisch den Wesensunterschied. Wir haben einen geistlichen Vater. Ununterbrochenheit des Lebens, physisch wie auch geistlich. Lebendiges aus Lebendigem. So wie der leibliche Vater das Leben von Gott weitergibt, der es empfangende Sohn aber selbst lebt, eigenständig, nach den Gesetzen seiner physischen Individualität, so spendet auch der geistliche Vater geistliches Leben von Gott, bringt in Qualen und Leiden, in Trauer und Lasten ein neues Wesen in der geistlichen Welt zum Leben, erzieht es, füttert und ernährt es, doch lebt der so Geborene nach den Gesetzen seiner eigenen, in der geistlichen Geburt empfangenen geistlichen Individualität, selbst und selbständig.
9. Er ist ganz und gar geistlicher Sohn. Sein geistlicher Vater versorgt ihn, öffnet ihm den geistlichen Blick, hilft ihm, doch er kann und darf ihm nichts einreden, ihn nicht dressieren. Die Entwicklung des geistlichen Sohnes vollzieht sich in Freiheit, ohne Verunstaltung und Traumatisierung.
Ganz anders bei den Katholiken. Dort gibt es keine geistlichen Väter, Altväter, weder ihren Werken nach noch selbst nach der Bezeichnung. Sie haben den directeur de conscience, director conscientiae – einen Lenker und Korrektor des Gewissens. Dabei zeichnet die Einbildung das Bild eines Abweichens des Gewissens von einem ihm von außen vorgezeichneten Weg, oder Gleises – ein krummer Weg des Gewissens und eine Reihe äußerer Anstöße, Zugkräfte, Umstellungen, die es auf die von irgendwem vorbezeichnete Bahn zurückführen, auf die ihm bereiteten Gleise.
10. In der Orthodoxie wird von der Persönlichkeit die Wiedergeburt, Neugeburt, innere Wandlung gefordert, im Katholizismus lediglich die äußerliche Nachfolge auf einem vorbestimmten Weg. In der Orthodoxie lebt die Persönlichkeit selbst ein geistliches Leben, und von ihr gehen lebendiges Handeln und Streben aus; im Katholizismus aber handelt sie nur getrieben durch Fremdeinwirkungen, ordnet sich lediglich einer äußeren, vorab und für alle hergestellten Form unter, in die man sie hineinpresst, wobei sie die gleiche bleibt wie vorher, und es auch niemandem in den Sinn kommt, dass sie sich selbst verändert und dass dies möglich ist. Die Orthodoxie will die Persönlichkeit heilen und vortrefflich machen, der Katholizismus aber will sie in bunte Gewänder kleiden. Die Orthodoxie will den inneren Menschen heranziehen, der Katholizismus ihn dressieren und in den Stall auf seinen vornummerierten Platz sperren.
11. Merken Sie sich bitte ein für alle Mal, dass die Idee der Persönlichkeit dem Katholizismus in einem Maße fremd ist, dass er sie einfach ignoriert, die Existenz der Persönlichkeit an sich aus den Augen verliert. Wo für Napoleon, einen Auswuchs des Papismus, alles chair à canon war, Kanonenfutter, so ist auch für den Papst, ebenso ein Napoleon, alles chair à canon, Futter für die Kanones, für die Kirchenregeln und die äußere Ordnung. Hauptsache äußerlicher Anstand und Wohlverhalten. Um die Seele geht es niemandem, und so wird sie verdorben, entweder indem sie protestiert und heuchelt (solange noch Leben in ihr ist) oder indem sie unterdrückt und versklavt wird (wenn sie stirbt).
12. Directeur de conscience! Als ob man dem Gewissen dirigieren und befehlen, Führer des Gewissens sein könnte! Gott Selbst hat nicht die Macht, das Gewissen zu verändern, denn darin, in seiner Unabhängigkeit, kommt das Bild Gottes zum Ausdruck. Die Katholiken aber versuchen, es auf ihre Weise zu verzerren. Dies führt entweder zu Heuchlerei und Räubertum, oder zu einem Zustand der Einbildung und Hypnose – Lenker und Gelenkte. Der directeur de conscience hypnotisiert seine Opfer fast, und verwandelt sie in seine willenlosen Werkzeuge, die von einer ihnen eingeredeten Idee angesteckt sind (Fanatismus). Fanatismus ist ja gerade die Ergriffenheit von einer Idee, im Gegensatz zur kreativen Inbesitznahme einer Idee. Die Idee frisst den Menschen auf, anstatt dass der Mensch eine Idee auf die Welt bringt. Die Gelenkten sind sicut cadaver, nach dem Lieblingsvergleich ihrer Seelenführer und -direktoren.
13. Die Hypnose aber wirkt insbesondere auf Frauen und steht im Zusammenhang mit der Sphäre des Geschlechtlichen; anstelle des Strebens nach geistlicher Reinheit steht das Kultivieren des Sinnenhaften und Ungesunden. Das Priesterzölibat ist nichts Zufälliges, sondern ein mächtiges Mittel der Beeinflussung der Gelenkten. Es ist der Wunsch, aus unserer angespannten Sinnlichkeit, die kein Ventil findet, etwas Pseudo-Geistliches zu machen, Pseudomystik. Sie wissen natürlich, wie häufig Fälle grober Erotik bei ihrem Wesen nach vielleicht völlig unschuldigen Verrichtungen sind.
Wenn Sie aber sagen, dass grobe Erotik eine Ausnahme, ein Missbrauch ist, so sage ich: Diese Ausnahme, dieser Missbrauch ist bezeichnend, er bestätigt die Regel. Es ist ein abusus[5], der die wahre Natur des usus[6] offenbart.
14. Schließlich ist das Wesen selbst des Verhältnisses zwischen Gewissensleiter und geleiteter Frau im Grunde Erotik, wie äußerlich anstandsvoll es auch sein mag. Die katholische Frau ist stets entweder verliebt in ihren „Direktor“ oder sie hasst ihn. Was bei uns außergewöhnliche Fälle sind (Grigorij Rasputin), ist bei ihnen eine gewöhnliche Sache.
15. Beichte. Jesuiten. Das Einwirken der Geistlichen wird zur Lenkung. Die (fremde) Seele an die Hand zu nehmen und nach eigenem Dünken zu führen – dieses Grenzziel des Katholizismus wird natürlich nicht zu jeder Zeit in gleichem Maße praktiziert. Doch wie Sie wissen, ist die ganze Geschichte des Katholizismus nichts anderes als ein langsamer Prozess der Verwandlung ihrer Kirchlichkeit in Jesuitentum, der Umbildung der lateinischen Kirche in eine mächtige Societas Jesu Christi, die mit ihren Armen nicht nur Außenstehende würgt, sondern auch die Kirche selbst. Ignatius von Loyola ist nur Symptom, denn Jesuitentum gab es auch schon vor ihm, und auch heute fallen die offiziellen Grenzen des Ordens keineswegs mit der Sphäre des Jesuitentums zusammen. Jeder der leitenden Katholiken ist mehr oder weniger Jesuit, selbst wenn er die offiziellen Jesuiten verachtet. Der ideelle Einfluss der Jesuiten ist unermesslich, und er wächst weiter. Daneben wächst aber auch der äußere Einfluss, weil sie alle die Kirche an sich reißen. Das Jesuitentum ist jedoch lediglich Phänomen und Folge der wahren Prinzipien des römischen Geistes. Es ist ein Typus des geistlichen Lebens. Die Jesuiten haben jedoch die Leitung der Seelen selbst in die Hände genommen. Ihre Lehrbücher ([Jean Pierre] Gury, [Alfonso Maria de] Liguori u.a.) sind durch den Papst als Handbücher für alle Leitenden empfohlen worden; ihre Autoritäten [Hermann] Busenbaum, [Gabriel] Vásquez, [Francisco] Suárez, [Antonios] Escobar y Mendoza, [Thomas] Sanchez u.a. sind Autoritäten für den gesamten Katholizismus. Alles am Katholizismus besonders Starke ist jesuitisch. Und die Jesuiten haben nun das Mittel gefunden, „die ganze Welt an sich zu ziehen und niemanden abzustoßen“ (Pascal). Es ist die vereinfachte Theologie, „La dévotion aisée“ (so ist einer der Aufsätze des Jesuiten [Pierre] Le Moyne[7] überschrieben).
Worin liegt dessen Geheimnis? Samarin, Aufsätze Bd. 6 S. 92 f. Ihre Moraltheologie beschäftigt sich mit der Lösung einer Frage – was das Gesetz vom Menschen fordert, und wie man sich dieser Forderungen erwehren kann – und nur mit dieser. Die Lehre vom Gewissen: Das Geheimnis dieses Erwehrens aber liegt in den Händen gelehrter Herren. Sie haben das Gewissen gestohlen und sich so für die Bestohlenen unverzichtbar gemacht. Das unmittelbare Verhältnis der ganzheitlichen Persönlichkeit zu einem konkreten Lebensprozess, die unmittelbare Aufnahme des Lebens in sich ist im Westen durch ein vorheriges Zerlegen des Lebens in Begriffe und Formeln ersetzt worden, und sie bestimmen ihr Verhältnis nicht zum eigentlichen Leben, sondern zum Begriff. Dadurch wird die Ganzheit des Lebens zerstört, und im Anschluss werden auch die Begriffe endlos zerstückelt und zermahlen. Einteilungen und Unterteilungen, und Unterunterteilungen, Schematismus und Formalismus.
[1] Gemeint sind Makarij (Bulgakov, 1816 – 1822), Metropolit von Moskau, Autor u.a. von „Orthodox-dogmatische Theologie“ (5 Bände, Moskau 1849 – 1853), und der hl. Filaret (Drozdov, 1783—1867), Metropolit von Moskau und Kolomna, Verfasser der Schrift „Ausführlicher christlicher Katechismus“ mit über 80 Auflagen seit 1820. Der scholastische Stil dieser Werke wurde seit Beginn des 20. Jh. stark kritisiert. Vergl. Florenskij, Pavel: Dogmatismus und Dogmatik (1906), in: WA 1 S. 558 und S. 561
[2] Florenskij, Pavel: [SFW] S. 5 ff.
[3] Schemamönch German (1844 – 1923); seit 1897 Vorsteher der Zosima-Einsiedelei, die zum Sergius-Dreifaltigkeitskloster gehört
[4] Erzmönch Isidor († 1908), Geistlicher Vater Florenskijs, der ihn der Zeit seines theologischen Studiums stark prägte; Florenskij hat später unter dem Titel „Das Salz der Erde“ dessen Vita verfasst.
[5] (lat.) Missbrauch
[6] (lat.) Brauch
[7] Siehe Fußnote 5 zu7-1-04