Orthodoxie und Katholizismus

7-1-07 Directeur de conscience

15. August 1911

Katholizismus

Die Einführung des verpflichtenden Zölibats der Geistlichkeit war ein außerordentlich bedeutender Moment in der Geschichte des Katholizismus. Die Kirche wurde durch die im Inneren eingesperrte Lust vergiftet. Hieraus folgt auch die berüchtigte katholische Beichte, der ganze gefühlsbetonte Charakter des Kults, von allem[1]. Hieraus der gefühlsbetonte Asketismus und gefühlsbetonte Kult der Gottesmutter.

Einstieg. Gesprächsthema. Die ganze Orthodoxie – über die geistliche Geburt. Der ganze Katholizismus – über geistliche Dressur, Exerzieren.

Directeur de conscience[2]

Bei uns gibt es den „geistlichen Vater“. So wie der leibliche Vater das Leben von Gott weitergibt, der Empfänger aber selbst lebt, eigenständig, nach den Gesetzen seiner physischen Individualität, so spendet auch der geistliche Vater geistliches Leben von Gott, gebiert in Qualen und Leiden, in Trauer und Lasten ein neues Wesen in der geistlichen Welt, erzieht es, füttert und ernährt es – doch lebt der so Geborene nach den Gesetzen seiner eigenen geistlichen Individualität, selbst und selbständig. Er ist gerade geistlicher Sohn (vgl. bei Apostel Paulus) (1 Kor 4,15). Sein geistlicher Vater versorgt ihn, öffnet ihm den geistlichen Blick, hilft ihm, kann und darf ihm aber nichts einreden. Ganz anders bei den Katholiken. Dort gibt es keine geistlichen Väter, Altväter, sie haben den directeur de conscience, director conscientiae[3] – einen Führer und Korrektor des Gewissens. Dabei zeichnet die Einbildung das Bild eines Abweichens des Gewissens von einem ihm vorgezeichneten Wege, eines schiefen Weges des Gewissens und einer Reihe äußerer Anstöße, die es auf die vorbezeichnete Bahn zurückführen. In der Orthodoxie wird von der Persönlichkeit die Wiedergeburt, Neugeburt, innere Wandlung gefordert, im Katholizismus lediglich die äußerliche Nachfolge auf einem vorbestimmten Weg. In der Orthodoxie lebt die Persönlichkeit selbst ein geistliches Leben, im Katholizismus aber ordnet sie sich lediglich einer äußeren Form unter, in die man sie hineinpresst, wobei sie in Wirklichkeit die frühere bleibt und dazu – äußerlich – noch pervertiert und scheinheilig, oder aber unterdrückt und versklavt wird. Directeur de conscience! Als ob man dem Gewissen dirigieren und befehlen, Führer des Gewissens sein könnte! Gott Selbst ist nicht so. Hieraus folgt entweder Heuchlerei und Räubertum oder ein Zustand der Einbildung und Hypnose. Der directeur de conscience hypnotisiert seine Opfer und verwandelt sie in seine willenlosen Werkzeuge. Sie sind sicut cadaver[4] in seinen Händen. Hypnose aber wirkt vorrangig auf Frauen. Erotik. Grobe Erotik. Auch wenn solche eine Ausnahme ist, bestätigt sie doch die Regel. Denn eine feine Erotik ist überall, das Wesen des Verhältnisses selbst ist erotisch, denn Frauen verspüren eine Verliebtheit in ihren directeur de conscience. In der Orthodoxie ist Grigorij Rasputin[5] eine Ausnahmeerscheinung, für Katholiken ist er nur ein besonders ausgeprägter Fall.


[1] Vergl.: Tagebuch einer katholischen Nonne [Dnevnik katoličeskoj monachini], Sankt Petersburg, o.A. (Anm. Florenskijs: in England 30 Ausgaben); sowie Chiniquy, Charles (ehem. kath. Priester): Die katholische Beichte und die Frau [Katoličeskaja ispoved‘ i ženščina], 2. Aufl. Sankt Petersburg 1900 (orig.: Le prêtre, la femme et le confessionnal, Montreal 1877, dt. Der Priester, das Weib und der Beichtstuhl, Biel 1901 ); ders.: Warum ich von der Katholischen Kirche abfiel [Počemu ja otpal ot Rimskoj Cerkvi], Sankt Petersburg 1899

[2] (franz.) Spiritual, Seelenführer, geistlicher Begleiter

[3] (lat.) dasselbe

[4] (lat.) einer Leiche ähnlich; der Ausdruck bezieht sich auf das Gehorsamsverständnis des Ignatius von Loyola (1491-1556), Gründer der Gesellschaft Jesu, des Jesuitenordens. Nach Ignatius ist der Gehorsam „blind“ (oder eben sicut cadaver) gegenüber Eigenwillen und Selbstsucht.

[5] Grigorij Efimovič Rasputin (Novych) (1872—1916), russischer Mönch mit dem Ruf eines Wunderheilers; enger Freund der Zarenfamilie von Nikolaus II.; Gerüchten zufolge wirkte er erotisch-hypnotisierend auf Frauen. Ob diese Gerüchte gerechtfertigt sind oder absichtlich zur Rufschädigung der Zarenfamilie verbreitet wurden, ist nicht endgültig geklärt. (Anm. d. russ. Hrsg.)

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