Religion und Kultur,  S-I-N

2-4-21 Magie und Kunst

Popov[1] kommt, wenn er den Fakt der vortrefflichen Darstellung der Hirsche durch die Höhlenbewohner in Frankreich betrachtet, wo zugleich die Menschen sehr schlecht und Pflanzen gar nicht dargestellt sind, zu der Überzeugung, dass die urzeitlichen künstlerischen Werke „nicht lediglich der Verzierung dienten, auch nicht einfache Darstellungen der Natur waren, sondern ein Mittel des Kampfes gegen die Natur“. Mit anderen Worten: Wenn ein Höhlenbewohner in der Dordogne in den Griff seines Dolches das Bild eines Hirsches einritzte, des für ihn auf der ganzen Welt wichtigsten Tieres überhaupt, dann hatte er nicht die Verzierung seiner Waffe im Sinn, sondern gedachte, auf diese Weise „auf sein Opfer magischen Einfluss auszuüben“ – eine Sichtweise, die nicht weit von derjenigen entfernt war, die noch viele Jahrhunderte lang in der Hexerei erhalten geblieben ist. Je genauer Schnitzerei und Zeichnung das echte lebendige Wild darstellten, desto wahrscheinlicher war eine erfolgreiche magische Einflussnahme darauf; hierin muss wohl auch der frühe und mächtige Impuls für die schnelle Vervollkommnung jener Kunst gesucht werden, von der hier die Rede ist.

Das Schnitzen und die ihm verwandten Künste (die Malerei eingeschlossen) verdanken nach Ansicht von Popov ihre Entstehung dem Versuch des Urmenschen, “sich des Tieres durch seine Darstellung zu bemächtigen”: So sucht auch der zivilisierte Mensch unserer Tage in den Kunstwerken das Leben selbst. Die Magie ist demzufolge die Mutter der Malerei und Bildhauerei, ein Gedanke, der gut in dem Lied eines amerikanischen Indianer-Medizinmanns zum Ausdruck kommt: “Zeichnen macht einen Gott aus mir.” A. F. Chamberlain, “Das Kind” Teil 1, 1901)[2]


[1] Vermutl. Ivan Vasil’evič Popov, 1867 – 1938, russ. orthodoxer Theologe und Historiker, mit dem Florenskij bekannt war.

[2] Chamberlain, A. F.: Das Kind [Eine Studie über die Evolution des Menschen], Teil 1, Kunst und Magie, W. Scott, 1901, S. 200 (russ.: Ditja, Moskovskoe knigoizdatel’stvo Moskau 1911, S. 281 – 285)

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