XVI. Ludmilla

[Lud = Leute, Menschen; Mila = die Milde,  Nette]

6.1.1925

Ohn‘ Milde bin ich, obgleich wohl auch mild,
Doch du, genannt zwar „den Leuten Milde“,
bist niemandem milde,
Und wirst es nie sein

Vielleicht ist das ein wenig überzeichnet formuliert, wie jede zu stark eingedampfte Charakteristik. Nichtsdestoweniger ist diese Charakterisierung zutreffend, eine richtige Beobachtung, wie sie in der Onomatologie der Polarisierung von Namen nicht ungewöhnlich ist. Wo der Name in seiner Etymologie sehr klar und unanfechtbar ist, wo seine etymologische Bedeutung dem Bewusstsein aufgezwungen wird und darüber hinaus einen Charakter hat, der nicht symbolisch, sondern zu offensichtlich kongruent ist, da erweist sich die Konstitution der Persönlichkeit oft als in direktem Widerspruch zur etymologischen Bedeutung des Namens. Es ist nicht so, dass es unmöglich wäre, zwischen dem Namen und der Persönlichkeit, oder genauer gesagt, zwischen der etymologischen Bedeutung des Namens und seiner energetischen Bedeutung, den Zusammenhang überhaupt zu erfassen. Im Gegenteil, ein aufmerksames Eindringen in den Namen und in die Person, die ihn trägt, ermöglicht es, die Fäden zu entwirren, die sich vom Namen bis zur Persönlichkeit erstrecken, ermöglicht es, den ursprünglichen Stoff zu verstehen, der in dieser Person inkarniert wurde, und dieser Stoff wird eindeutig durch den betreffenden Namen bestimmt. Wenn dies jedoch offenbar wird, dann verdeutlicht sich die symbolische Repräsentation des Namens durch diese Person; die etymologische Bedeutung ihres Namens erweist sich nicht nur an der Oberfläche als widersprüchlich, sondern bewahrt diese Bedeutung auch in ihren tieferen Schichten. So wird es nicht nur möglich zu sehen und zu verstehen, dass diese Person die etymologische Bedeutung ihres Namens eklatant verletzt, sondern auch, dass sie ihn nicht aus Zufall trägt, dass die Energie ihres Namens wirklich in ihr wirkt, auch wenn sie eine unerwartete Handlung hervorruft; es ist nichtsdestoweniger die Aktivität dieses Namens und nicht eines anderen. Die Persönlichkeit, wie jede Konkretheit überhaupt, die ein noetisches [intelligentes] Wesen verkörpert, manifestiert dieses in sich selbst und durch sich selbst symbolisch als künstlerisches Bild. Wenn dieses intelligente Wesen hinreichend weit von der Möglichkeit einer rationalistischen Vereinheitlichung und Reduzierung auf nur ein Attribut entfernt ist, dann lässt seine künstlerische Verkörperung in der Persönlichkeit keine Lücke zwischen dem Symbol und dem Prototyp – dem Namen – entstehen. Wenn aber dieser Prototyp (obwohl auch hier nicht rationalistisch zu simplifizieren) der rationalen Ebene näher steht und leichter Gewalt gegen sich selbst zulässt, die ihn von einer Idee in einen Begriff verwandelt, so kann die Person, die den gegebenen Namen verkörpert, leicht durch das geifernd auferlegte abstrakte Attribut des Namens, gerade dadurch, dem Namen ungehorsam werden und als Antwort auf sein obsessives Verlangen ein bestimmtes Attribut entwickeln, die wandelnde Verkörperung dieses Attributs sein – sie zeigt das genaue Gegenteil, will ontologisch das Gegenteil zeigen. Vielleicht wird sie dabei durch eine tiefe Keuschheit zu dieser Auflehnung gegen ihren Namen gedrängt, die es ihr nicht erlaubt, mit einem Schild auf der Stirn herumzulaufen, das mit jedem Buchstaben erklärt, welches abstrakte Merkmal diese Person nach Auffassung der Menge verkörpern soll. Aber wenn sie sich in das entgegengesetzte Merkmal kleidet, wird sie in der Tiefe ihrer Persönlichkeit ja dennoch von dem an der Oberfläche verleugneten Merkmal erleuchtet, und dessen Licht scheint undeutlich durch seine eigene, oberflächlichere Negation hindurch.

Frühere Werke, in denen Personen mit Namen handeln, deren Bedeutung nur zu deutlich Tugenden und Laster anzeigt, erscheinen uns abgeschmackt und künstlich. Unangenehm sind hier nicht nur oder vielmehr nicht so sehr die Auswüchse ihrer Tugend oder ihres Lasters, als die formale Erklärung beider durch die Namen selbst: Aus der durch Jahrhunderte in uns aufbewahrten und abgelagerten, uns aber unstreitig innewohnenden Erfahrung, durch den unmittelbaren Instinkt für Namen, wie auch immer dieser Instinkt erklärt werden mag, glauben wir nicht an dieses direkte Zusammentreffen des abstrakten logischen Zeichens mit dem psychologischen und moralischen, und umso mehr nicht mit dem körperlichen Inhalt der Persönlichkeit; das dargestellte Bild, in Gesamtheit mit seinem Namen, wird von uns als unmöglich und daher künstlerisch falsch bewertet. Lucus a non lucendo – das weiß jeder unbewusst, und jeder weiß aus Lebenserfahrung, dass Menschen mit allzu offensichtlich frommen Nachnamen selten fromm sind. Constantinus – propter inconstantiam. Und ebenso, oder sogar noch mehr, wegen der besonderen Klarheit der Etymologie, ist die Ludmilla, im Verhältnis zu diesem Namen,

… genannt zwar „den Leuten Milde“,
doch niemandem milde,
Und wird es nie sein.

Wozu große Umschweife: Ludmilla ist grob, und das ist sie nicht zufällig. Sie hat starke Impulse, aber unfeine, grobe – im Bassschlüssel und etwas heiser. Sie überrennt jeden, der ihr auf dem Weg ihres Impulses in die Quere kommt. Berechnende Impulsivität ist nichts für sie; Sie keilt gegen die Berechnung selbst, sie sucht gewaltsame Zusammenstöße mit dem Leben und schont sich nicht. Aber das ist kein Temperament, nicht Feuer im Blut und in der Seele, das in einem geschmolzenen Strom in eine bestimmte erwünschte Richtung fließt. Ludmilla will nichts Bestimmtes, sie strebt nicht danach und weiß überhaupt nicht, was sie will; d.h. im Sinne des Inhalts: sie braucht keinen bestimmten Inhalt, weder dieser noch jener, sondern die Form, das gewaltsame Aufeinanderprallen, die rohen Manifestationen. „Sie sucht die Stürme, als ob es Frieden in den Stürmen gäbe.“ Leises Sprechen fällt ihr schwer, sie braucht Schreie. Nicht nur sucht sie keine Wärme, Behaglichkeit, Zufriedenheit mit ihr, sondern verwirft diese mit Entrüstung, weist und schüttelt sie ab als etwas zu Verachtendes und Ekelhaftes. In ihrer eigenen Vorstellung ist ihre Erscheinung, und in der Folge ihre Gestalt selbst, Erschütterung, das Schwenken eines Banners, einer Fahne, vielleicht eines Kreuzes, überhaupt das Aufrütteln mit irgendetwas, es spielt keine Rolle, womit genau. Der Sturm tobt, Trommeln und grobe Blechinstrumente dröhnen, Kugeln pfeifen, ringsum angespanntes Leid und Entsetzen. Sie aber schüttelt etwas, führt irgendwohin, rettet irgendwelche Menschenmassen und führt sie zu irgendetwas. So präsentiert sie sich in ihrer Blütezeit, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Aber für sie bleibt unklar und mehr oder weniger gleichgültig, wen sie führt und wohin sie führt: Wichtig ist eben das Aufstacheln, der beethovensche Geist der gegenstandslosen Rebellion, der Ansturm der Elemente, der alles Ruhige und Angenehme hinwegfegt, obwohl er manchmal kein Ziel hat, das diese Impulse innerlich rechtfertigen würde. Das ist das genaue Gegenteil des Epos, es ist das tosende Klangmeer von Beethovens Egmont, aufregend und erhebend, wenn man sich ihm wahnsinnig hingibt, leeres Kochen in einem Wasserkessel dagegen, wenn man bedenkt, dass die schwache Motivation für all diesen Lärm politische Leidenschaften sind, sehr zweifelhaft bezüglich ihrer Berechtigung und darüber hinaus längst verklungen und in das Reich des Epos verbannt, wenn auch eines recht unbedeutenden.

Genau so wäre Ludmilla gerne auf einem Floß aus Fässern und Baumstämmen den turmhohen Wellen des Ozeans entgegengesegelt, im Widerschein der Blitze und in der Rolle des Kapitäns an Kälte und Hunger sterbender unglücklicher Menschen – unbedingt unglücklicher Reisender. Aber dieses Bild, wie auch andere ähnliche, ist für Ludmilla kein theatralischer Effekt, keine Eitelkeit oder der Wunsch, zu überraschen und durch sich zu überraschen, sondern wirkliche Erschütterung. „Ich bin’s“, dürstet es Ludmilla zu sagen, aber gleichzeitig will sie eine wirkliche Erschütterung, wirkliche Erhebung, wirkliche Leistung – mit einem Effekt, allein einem Effekt und einer effektvollen Rolle wird sie sich niemals zufriedengeben.

Ludmilla will den Effekt, aber keine Affektiertheit. Sie ist ein ehrliches Wesen, übertrieben in ihrer Ehrlichkeit, betont darin, grob in ihrer Ehrlichkeit. Sowohl innerlich als auch äußerlich ehrlich, „so ehrlich, so wahrhaftig, dass ich jedem ins Gesicht schlagen werde, ich werde keinen Millimeter an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit hergeben.“ Jeder erscheint ihr schlaff, träge, falsch. Sie erkennt nur Helden an und ist geneigt, in dem einen oder anderen von Zeit zu Zeit das ideale Antlitz eines Helden zu sehen. Sobald sich aber die geringste Schwäche, Weichheit und Unschlüssigkeit bei einem solchen anerkannten Helden offenbart, wird er augenblicklich mit einem Fußtritt vom Sockel gestoßen und mit Verachtung überschüttet – er, ein Betrüger, ein schlaffer und feiger Schurke, ist nicht besser als die übrige verachtenswerte Herde niederträchtiger und selbstsüchtiger Menschlein.

Ludmilla ist eine heldenhafte Natur, vielleicht nicht so sehr heldenhaft, als vielmehr solcherart sein wollend. Sie versteht das Heldentum sehr elementar, ebenso wie den Adel, den sie fast auf der ganzen Welt verleugnet und den sie überragend für sich selbst geltend macht. Es wird ihr nicht einmal der Gedanke daran kommen zu zweifeln, ob ihr Adel wirklich so unbestreitbar ist und ihr das Recht gibt, alle um sie herum zu verachten. Als Beethoven sich mitten auf den Weg stellte, damit der Herzog von Weimar, Goethe und deren Gefolge über dem Rasen um ihn herumlaufen mussten, war Beethoven wohl von dem gleichen glücklichen Gedanken an seine Unabhängigkeit und seinen Adel – im Gegensatz zum unterwürfigen Goethe – ergriffen, der gewöhnlich auch Ludmilla zu inspirieren pflegt.

Sie hasst die Zufriedenheit, aber wo Elend und Kummer ist, ist sie an ihrem Platz; dort vergisst sie die harte Verurteilung der Menschen und ist zu jedem Opfer bereit, impulsiv und ohne Rückblick. Hier wird sie einfallsreich, unternehmungslustig, kann führen, Energie schenken, die Situation meistern und – tatsächlich aus ihr herausführen. Ob als Krankenschwester, Sanitäterin, Marketenderin, revolutionäre Aktivistin – hier ist sie an ihrem Platz. Im Allgemeinen nicht durch einen tiefen Geist ausgezeichnet, der Kontemplation fremd, erweist sie sich hier durch ihren Impuls, der den Blick zurück nicht kennt, durch ihre Grobheit, die nicht bei Details und Schattierungen verweilt, oft klüger als die Klügsten. Sie schlägt mit der Axt und greift nach der Axt, ihrer Hauptleidenschaft für grobe Handlungen gemäß, wo andere, erfahrener als sie, anfangen würden, feine Werkzeuge zu gebrauchen, die von ihr verachtet werden; im Anblick einer Gefahr mag sie mit ihrer Grobheit mehr Recht haben als andere mit ihrer Subtilität und Umsicht. Hier führt sie, nunmehr den Menschen lieb – ja, den Menschen, nicht dem Menschen. In heroischen Momenten ist sie dem Publikum lieb. Sie ist nicht nett zu einem Menschen, und sie will nicht nett sein, und deshalb ist sie grob zu ihm, dem einen Menschen: Ihrer Ansicht nach ist es zu gering, zu weich, zu wenig, nett zu einzelnen Menschen zu sein.