III Anlage 5 – Material zu einem geplanten Artikel „Noumena und Phaenomena“

Anhand der Materialien zu dem Artikel „Noumena und Phaenomena“ beabsichtigte Florenskij beispielhaft die Betrachtung philosophischer Terminologie. Vielleicht hat er das während des mündlichen Vortrags auch getan, und deshalb im Nachhinein dieses Material zur Mappe „Anthropodizee. Materialien und Notizen“ hinzugefügt. Nachfolgend werden die hauptsächlichen Eigentexte Florenskijs daraus wiedergegeben.


3-5-01 Phaenomena und Noumena

20. September 1914

Die Etymologie und Simasiologie des Wortes manifestatio (=φαινόμενον?) klären. Manifestation! Wer hat wann und aus welchem Anlass dieses Wort in die Philosophie eingeführt? Ist es vielleicht ein Kunstwort? Eventuell – irgendwie – eine einfache Übernahme eines griechischen Begriffs?

Manifestation und manes, Geister (vgl. umgekehrt: penates von penitus – innen, verborgen, okkult)[1].

Sind Manen Erscheinungen von Seelen? (nicht aber die Seelen selbst?), Seelen in der Erscheinung? im Erscheinen? im Hervortreten? Penaten jedoch sind Dinge an sich, selbstseiend. Sind dann nicht Manen φαινόμενα und Penaten νοούμενα? Die Genii[2] dagegen sind die Ideen dieser Dinge an sich; numina – nomina – die größte mystische Tiefe der geistlichen Welt, ihr Wesen. Mit anderen Worten steigt hier die Noumenalität immer mehr. Was sind dagegen Larvae[3]? (Welche Etymologie hat dieses Wort? Maske?) Sind solche Masken nicht Leere, Verneinung der Realität, meonische Hülsen, Leichen, die von der Seele zurückgelassen wurden? Die Anordnung der Schichten des geistlichen Seins sieht dann wie folgt aus:

IV Genii
III Penates
II Manes
I Sinneswelt
0 Larvae
    NOUMEN

[1] manes (lat.) – die Manen, ausgefahrene Seelen Verstorbener, penates (lat.) – die Hausgötter, Penaten, Schutzgötter der Vorräte

[2] genius (lat.) – ursprünglich persönlicher Schutzgeist des römischen Mannes, später auch für den „Geist“ eines Ortes oder einer Vereinigung von Menschen, 

[3] larva (lat.) – ursprünglich eine Maske bzw. ein Gespenst

3-5-02

20. September 1914, im Zug nach Moskau

Nach den Worten von Pachymeres sind „Namen Bekanntmachungen der darunterliegenden Dinge“. Vermutlich eine falsche Übersetzung, jedenfalls wird der Sinn nicht verständlich vermittelt. Nicht Bekanntmachung, sondern Sichtbarmachung, Erscheinung, Manifestation.

Namen sind Manifestationen der Dinge. Jegliches Ding unterliegt einer Energie, die es sichtbar werden lässt. „Bekanntmachungen“ dagegen ergibt einen sehr […] und flachen Sinn, als ob Namen Etiketten wären, auf die Dinge aufgeklebte Bezeichnungen, d.h. indirekt mit ihnen verbundene. Die russische Übersetzung liefert einen dem Original direkt entgegengesetzten Sinn.

3-5-03

20. April 1915 früh

Unser, d.h. das moderne Verständnis des Begriffs Erscheinung, phaenomenon, Phänomen entspricht etwa dem griechischen δόξα, Meinung, Anschein, Fiktion, kann aber keinesfalls als Äquivalent für das griechische φαινόμενον gelten. Denn, ich wiederhole es, das griechische φαινόμενον hatte einen positiven Sinn, unser „Phänomen“ jedoch wird ausschließlich in negativem Sinne benutzt.

3-5-04 Noumena und Phaenomena

3. Juli 1915

(eine geheimnisvolle Theorie […] Namen als Phänomene – Imjaslavie[1] – …)

  • 1) „Über Kant hinausgehen“ bedeutet, ihn von seinem historischen, von seinem psychologischen Moment zu befreien. Dies ist natürlich nur im Sinne einer Ausrichtung der Beschäftigung möglich, nicht als fertiges Ergebnis. Die Logik verwirklicht sich in der Psyche, und nicht außerhalb davon, das logische und psychologische Moment sind verbunden. Reine Logik gibt es nur als richtungsweisende Idee des Denkens, in concreto gibt es sie nicht. Sie ist die Grenze. Da jedoch eine fortschreitende Reinigung möglich ist, folgt hieraus ein gegenseitiger Argwohn. Kant – Fichte – Neokantianer – Rickert – Cohen – Husserl – Logiker …

Wie in der Politik jeder Rechte der Linkabweichlerei verdächtigt wird, und jeder Linke rechten Gedankentums, und jeder jeden zu übertreffen sucht, so ist es auch in diesem modernen Streben nach „Reinheit“.

  • 2) Wissen und Glauben. Wie wir sehen, gibt es in der Geschichte des Denkens zwei Linien. Die zwei Arten der Auslegung Kants sind wesentlich mit diesen zwei Linien verbunden: die psychologische mit dem Empirismus, die logische mit dem Rationalismus. Auch in Kants Biografie sind es zwei. Hieraus wird das gewöhnliche Streben Kants nach Differenzierung und Vermittlung verständlich, seine differenzierend-vermittelnde Tendenz. Dieser Standpunkt drückt sich aus in der Formel „Die Dinge werden danach erkannt, wie sie in unserer sinnlichen Erfahrung in Erscheinung treten (Empirismus), entsprechend unserer geistlichen Organisation (Rationalismus)“. Dies ist eine Vermittlung, eine Vereinigung in Gedanken, in der Theorie, die aber um den Preis einer Fragmentierung der Ontologie erkauft wird. Mit anderen Worten, Kant verdrängt den Zwiespalt der Philosophiegeschichte wie auch der eigenen Biografie in die Ontologie. So entstehen zwei ontologische Schichten:
    a) das, was in der Sinneswelt erscheint, die Dinge an sich
    b) die Welt des Erscheinenden, die Welt der Erscheinungen, d.h. die Dinge, wie sie sich dem Geist darstellen.

  • I) Dinge an sich. „Ding an sich“[2] – Ding an sich, bei sich, über sich, in sich (am unglücklichsten). Bis zu einem gewissen Maße ist das historisch von den platonischen Ideen abgeleitet. Kant nennt diese νοούμενα, intelligibilia, mit dem Verstand erkennbare Welt. Νοούμενα sind nicht zu verwechseln mit numina, und das Noumenale nicht mit dem Numinalen. Numen ist eine in ihrer Erscheinung transzendente Gottheit; dies bezieht sich sozusagen auf die Erfahrung, jedoch eine übersinnliche. Νοούμενα sind im Gegensatz dazu etwas, was nicht in Erscheinung tritt, was den Sinneserscheinungen zu Grunde liegt (Kant lehnt übersinnliche Erscheinungen ab). Die Νοούμενα bei Platon und den Neoplatonikern werden indirekt erkannt, auf dem Wege der Dialektik, geradezu in künstlerischer Betrachtung, in geistlicher Erleuchtung. Welchen Sinn hat der Begriff dagegen bei Kant? Historisch ist es natürlich eine direkte Übernahme aus der bis dahin gewesenen Philosophie, im Grunde, hypothetisch: „Gäbe es einen konkreten Inhalt der Dinge in sich („intellektuelle Intuition“ = geistliche Erfahrung), wäre dieser so etwas wie Platons νοούμενα“.
    Das Ding an sich bekommt in unterschiedlichen Interpretationen völlig verschiedene Bedeutung. In psychologischer Hinsicht ist es gerade ein „Ding“, in logischer lediglich ein Grenzbegriff, unser eigener, die 1, mit deren Hilfe wir Gleichungen lösen.
  • II) Φαινόμενα, Phänomene, Erscheinungen, das Erscheinende. Wie im vorangegangenen Begriff als solchem, so liegt auch in diesem nichts Verwerfliches für das, was darunter gefasst wird. Der Erscheinung steht Abwesenheit, Nichtsein gegenüber – scheinbare oder imaginäre. Erscheinen bedeutet Sichtbarwerden, da sein – im Gegensatz einerseits zu Abwesenheit, andererseits zu Träumen, Spuk und Fiktion. Wenn wir z.B. darüber sprechen, dass dem heiligen Serafim die Gottesmutter erschienen ist, wenn wir über die Erscheinung der Gottesmutter vor dem Heiligen sprechen oder über die Erscheinung Christi vor den Aposteln, wollen wir ausdrücken, dass
    a) es nicht an Eindrücken gefehlt hat und
    b) dies keine illusorischen, fiktiven, subjektiven Eindrücke waren.
    Ein Ungläubiger dagegen wird diese Erscheinungen bestreiten, entweder in dem Sinne, dass es überhaupt keine Eindrücke gab (historische Kritik) oder aber, dass diese inhaltslos waren (philosophische Kritik) und nicht dem Gegenstand entsprechend. „Erschienen“ beschränkt sich nicht darauf, in sich und seiner Selbstabgeschlossenheit zu ruhen, sondern wahrgenommen worden zu sein. Dass die Gottesmutter dem heiligen Serafim erschienen ist, bedeutet, dass er Sie so wahrgenommen hat, wie Sie in Wirklichkeit ist. Um wahrgenommen zu werden, muss man in irgendeiner Weise erscheinen. Aber bereits bei Platon, und in aller Entschiedenheit bei Kant, erhält dieses Wort eine besondere Färbung, den Ausdruck einer offenkundigen Entwertung dessen, was darunter subsumiert wird, eine augenscheinliche Missbilligung. Bei Platon ist das nachvollziehbar. Wenn für ihn die sinnlichen Erscheinungen auch nicht der Welt der Ideen entgegengesetzt werden, so stellen sie doch im Vergleich etwas Niedrigeres dar. Das sichtbar werdende Sein ist im Vergleich zu den Ideen von geringerer Qualität. Für Kant dagegen ist es etwas völlig anderes, das die Natur der Dinge in keiner Weise erkennen lässt. Die Erscheinungen lassen Dinge nicht erscheinen, sondern verstecken sie, ermöglichen nicht deren Erkenntnis, sondern schließen den Geist des Menschen in sich selbst ein, so dass keinerlei wahre Erkenntnis noch möglich ist. Die Erscheinung als Moment der Erkenntnis hat einen direkt entgegengesetzten Sinn bekommen. Wie ist es dazu gekommen?

    Ohne die Geschichte des Begriffs „Erscheinungen“ zu vertiefen, soll nur Folgendes gesagt sein:

    Unser Fest der Taufe des Herrn wird Erscheinung des Herrn genannt, Θεοφάνεια , Ἐπιφάνεια. Wieso? Weil es in früherer Zeit mit der Geburt Christi zusammenfiel, der Zeit, in der Gott im Fleische erschien, Gott das Wort der Welt erschien. Woher aber kommt der Begriff ἐπιφάνεια selbst?

    Ihnen ist natürlich bekannt, dass religiöse Begriffe außerordentlich lebendig sind und aus vorherigen Religionen übernommen worden sind, auch wenn ihr Sinn sich dabei oft völlig verändert. Epiphanien hießen die Feierlichkeiten für Dionysos: Der Gott Dionysos erschien dem Volke. Die Teilnehmer trugen jedoch Masken (und stellten so den Gott und sein Gefolge dar, zeigten ihn und ließen ihn erscheinen) (daher stammen die Saturnalien, der Karneval, Maskeraden, ja unser Theater überhaupt), und so wandelte sich, als das Glaubensmoment dem Unglauben wich und man anstelle des vom Liturgen mithilfe der Maske zum Erscheinen, zur Offenbarung gebrachten Gottes eher den Menschen wahrzunehmen begann, den maskierten, sein Wesen verbergenden, alle täuschenden Mimen, auch das Moment des Wortes ἐπιφάνεια in das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung – zum Moment des Verbergens der wahren Natur der Dinge.

Somit bilden die von der Naturwissenschaft erforschte Natur, und unser von der Psychologie betrachtetes psychisches Leben, sowohl das äußere als auch das innere Leben also, die Welt der Erscheinungen, d.h. den Vorhang, der die echte Erkenntnis verhüllt. Wenn es Ihnen gefällt, können Sie das Muster (die Naturgesetze) und das Gewebe (die Gesetze des Verstandes) dieses Vorhangs erforschen, doch bedenken Sie, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, ihn hochzuheben.

Die gesamte Wirklichkeit wandelt sich zu einer gottlosen und seelenlosen. Und das ist gewiss kein historischer Zufall, dies musste so kommen und nicht anders. Das ganze Wesen von Kants Philosophie, wie auch jenes der Kantianer, die J. P. Richter ironisch „Rasierspiegel Kants“ genannt hat, liegt in dem Eingeständnis, dass in der herrschenden Weltauffassung „alles wohlgeraten“ ist. Im Grunde ist Kants Philosophie eine Rechtfertigungstheorie, die zu beweisen hat, dass die intellektuelle Lebensauffassung nicht anders ist und sein kann, als sie ist, und dass nichts Besseres nötig ist. Kant kanonisiert den Intellektuellen, weil er dessen Erkenntnis und Erkenntnismethode für vollkommen hält und dessen instinktives Abwenden von der höheren Welt für die Norm, und sein ganzes Gebäude auf der Grundlage dieser Kanonisierung errichtet. Daher liegt nichts Erstaunliches darin, dass sein System nichts anderes darstellt als eine Apotheose, eine Vergöttlichung des intellektuellen Verstandes.


[1] (russ.) Onomatodoxie, Namensgäubigkeit, Verehrung des Namens wie einer Ikone

[2] im Orig. deutsch; Florenskij meint nachfolgend die im Russischen unglückliche Übertragung des Begriffs „Ding an sich“ durch „vešč v sebe“, „Ding in sich“.