7-3-01 Verneigungen
8. Februar 1920
Welchen Sinn haben die tiefen und sonstigen Verneigungen[1]? Wofür steht im Kult das ausgebreitete Niederwerfen? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Struktur des Menschen selbst. Vom Tier unterscheidet sich der Mensch äußerlich dadurch, dass er steht, während das Tier liegt. Der Mensch ist ein aufgestandenes Tier. Die inneren Besonderheiten des Menschen sind unmittelbar durch die Tatsache des Stehens möglich. Bei horizontaler Lage des Brustkorbs und des Rachens wäre Sprache unmöglich, könnte sich das Gehirn nicht entwickeln; die Arme, Organ des Schöpferischen und des Erfassens, wären nicht frei, kurz – wäre der Mensch nicht aufgestanden, wäre er nicht Mensch.
Wenn es so ist, dann charakterisieren Aufstehen, Wille zum Aufstehen und Fähigkeit aufzustehen speziell den Menschen als solchen. Der Akt des Aufstehens ist ein eigenständiges Phänomen der Menschlichkeit. Der Wille aufzustehen erweist gerade menschliches Streben; die Fähigkeit dazu ist Menschlichkeit selbst. Vergessen wir nicht, dass im Bewusstsein der Orthodoxen Kirche die Hauptaufgabe, die Nüchternheit, wesentlich mit der Anstrengung des Stehens verbunden ist, und dass Gebet gerade das Stehen verlangt. Sitzen dagegen schwächt Leib und Seele, worauf Dämmerzustand, Träumerei und geistliche Passivität folgen. Das antike Hellenentum forderte dem allgemein nüchternen und aktiven Geiste seiner Religion entsprechend das Stehen im Tempel oder genauer beim Tempel. Die Orthodoxie, die mit dem Hellenentum die Forderung nach Nüchternheit teilt und allgemein dessen geistliche Traditionen fortführt, verlangt dasselbe. Im antiken Rom dagegen, mit seiner gegenüber Hellas ausgeprägteren Priesterlichkeit und darum größeren Passivität der Laien, war Entspannung und Passivität gestattet und sogar erwünscht. Diese geistliche Tradition übertrug sich auf den Katholizismus weiter. Deshalb ist wie im antiken, so auch im neuen Rom das Sitzen in der Kirche erlaubt und sogar gefordert. Zusammen mit dem Orgelspiel, der Gewöhnung an unbedingten Gehorsam und dem gefühlsbetont-träumerischen Charakter des gesamten religiösen Lebens schließt dieses Sitzen Nüchternheit im Wesentlichen aus.
Stehen also fördert Nüchternheit und Klarheit der menschlichen Geisteshaltung selbst. Folglich erfordert das Aufstehen, Sich-Erheben besondere Impulse zur Menschlichkeit, besonderen Willen zur Aktivität. Verneigungen und Aufstehen sind wahrhaft Übungen in Menschlichkeit, Festigung des menschlichen Bewusstseins in uns. Das Niederwerfen [russ. metanie] – d. h. das korrumpierte, an das russische Wort metat‘ [werfen] angepasste μετάνοια, Reue, ist wahrhaftig zugleich Niederwerfen und Bereuen, denn diese Reue ist selbst ein Umwenden, eine Hinwendung zu sich, d.h. Nachdenken bzw. ein Bringen des Bewusstseins zur Klarheit. Bereuen, d.h. sich mit dem Bewusstsein zu sich selbst wenden bedeutet, jegliches Fantasieren und jede Trunkenheit[2] zu vertreiben, was wiederum heißt, die Menschlichkeit in sich zu wecken.
Tiefe und sonstige Verneigungen haben also den Sinn von Übung in Menschlichkeit. Sie stärken in uns die eigentlich menschliche Aktivität zu stehen und nüchtern zu sein. Wahrlich, wenn der Ruf „Weisheit“[3], σοφία erklingt, so muss man „aufrecht“ stehen, gerade, ὀρθός. Um aber aufrecht sein zu können, muss man es lernen. Schließlich definiert sich unser Zeugnis als ὀρθοδοξία,[4] als „gerade Anschauung“, als Meinungen der Seele, die gerade sind, nüchtern also, und sich nicht seitwärts in Fantastereien verlieren und in Träumen enden. Um die Kraft zu haben, den Aufruf „Weisheit, aufrecht!“ zu verwirklichen, muss man lernen, „aufgerichtet“ zu sein. Verneigungen aber lehren uns dies, sie entwickeln den Willen und gemeinsam damit die Innervation zur „Aufrichtigkeit“, d.h. zur Geradheit. Hierzu muss man erlernen, sowohl aktiv-passiv als auch aktiv-aktiv, bewusst- passiv als auch bewusst-aktiv zu sein. Sitzen ist ein Zwischenzustand, in dem weder der Eigenwille zerstört noch dessen Selbständigkeit erreicht wird. Sitzen entspricht der passiven Aktivität. Ganz Rom ist auf diesem Gefühl des Passiv-Aktiven erbaut. Wir dagegen entspannen uns aktiv bis zum Äußersten, wenn wir uns zu Boden werfen, wir sterben, um beim aktiven Aufrichten aufzuerstehen. Beim Verneigen üben wir das Auferstehen, wir gehen aktiv zur Passivität über und von dort – durch besondere Anstrengung – wieder zur Aktivität. Deswegen ist die Orthodoxie auf Verneigungen begründet, Rom aber praktiziert das Sitzen und erkennt Verneigungen nicht oder kaum an.
Die stehende Position
Eine mehr dichterische als wissenschaftliche, zuweilen mehr sentimentale als genaue Auffassung hat den Sinn dieses unterscheidenden Kennzeichens (der aufrechten Stellung), wie mir scheint, nicht an der rechten Stelle gesucht… (weiter folgt die Widerlegung dieser Auffassung). Man hat nun von der Bestimmung zur aufrechten Stellung einen durchgreifenden Einfluss auf die übrige Formbildung des menschlichen Körpers abzuleiten gesucht, und vielfach mit Recht, obgleich wir nicht die Schwärmerei teilen können, mit welcher Herder fast alle Vorzüge der Humanität aus dieser einen Quelle ableiten möchte. Aber da wir nicht begreifen würden, inwiefern an sich eine senkrechte Linie vornehmer wäre als eine waagerechte, so scheint uns vielmehr der andere Versuch gemacht werden zu müssen, zuerst die Notwendigkeit dieser aufrechten Stellung einzusehen, die ja nicht um ihrer selbst willen (warum eigentlich „ja“) etwas Vorzügliches ist, sondern vorzüglich nur, sofern sie die Bedingung einer größern Höhe der Lebensleistung bildet. Ich halte nun den Nachweis für möglich, dass für ein Geschöpf, dessen Bildung einmal dem Typus der Säugetiere angehört, jene Benutzbarkeit der Arme und Hände, deren unendlichen Wert zu schildern wir einer späteren Stelle aufbewahren, nur unter Voraussetzung der aufrechten Stellung denkbar ist…
usw. [Rudolph] Hermann Lotze: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, 1866, 1. Bd., 5. Kapitel [dt. 1858 Bd. 2 S. 87 Online].
[1] Tiefe Verneigung meint im orthodoxen Sprachgebrauch („Metanien“) ein ausgestrecktes Niederwerfen auf den Boden; daneben gibt es noch die kleine Verneigung „bis zum Gürtel“.
[2] wörtl. „Nicht-Nüchternheit“; Gegensatz geistlicher Nüchternheit ist die „prelest‘“, vom griech. πλάνη – Irrtum, Täuschung, Illusion.
[3] „Weisheit, aufrecht!“ – Ruf des Diakons vor der Evangelienlesung.
[4] (griech.) Orthodoxie, Rechtgläubigkeit; von ὀρθός = richtig, recht, aufrecht und δοκέω meinen, glauben