Orthodoxie und Katholizismus

7-1-11 Morgenamt des Radoniza-Festes

18. April 1918, Sergiev Posad

Wenn man sich bei der Kathisma-Lesung[1] setzt, fühlt man sofort, wie der gespannte Bogen gelöst, entspannt wird, wie nicht nur der Körper, sondern irgendwie auch die Seele erschlafft, ausruht, verzärtelt. Hierbei kann ich mir gut den Zustand der Katholiken und aller Sitzenden vorstellen. Ihre Seele ist stets schlaff, stets passiv, und hieraus ergibt sich der Charakter des katholischen religiösen Lebens, der eine Autorität erfordert, eine gebietende Ergänzung für sich, in Gestalt eines Seelsorgers usw. Der Orthodoxe dagegen ist angespannt, mit dem ganzen Körper wachsam, das ganze Wesen ist pfeilartig aufgerichtet, nicht zerstreut und in Sentimentalitäten hinschmelzend. Daher auch die passive Wahrnehmung bei den Katholiken, eine aktive dagegen bei den Orthodoxen, Lebendigkeit, Klarheit.


[1] Zyklische Lesungen von ein bis drei von insgesamt 20 Abschnitten (Kathismata), in die der Psalter aufgeteilt ist; am Radoniza-Fest, dem Dienstag nach der Osterwoche, einem Gedenktag für die Verstorbenen, wird Kathisma 17 gelesen, das nur aus dem einen langen Ps 118/119 besteht. Während dieser Lesungen darf man sitzen, woher die Bezeichnung κάθισμα (griech.: Sitz) rührt.

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