XI. Nikolaus (Nikolai)
22.10.1923
Es gibt Namen, deren Töne sanft in einem Bogen aufsteigen, um ebenso sanft abzusteigen, oder im Gegenteil, sie steigen herab, um wieder aufzusteigen. Die Stimmorgane, die an ihrer Aussprache beteiligt sind, erscheinen hier nacheinander, und der Klang des Namens öffnet sich wie eine Sichel. Hier steht unwillkürlich das Bild eines eng zusammengerollten Bandes vor Augen, das unter einem Winkel geworfen wird, während man das eine Ende mit der Hand festhält: Beim Aufgehen bleibt das Band zusammenhängend. Auf die gleiche Weise kann der Klang eines Namens ein integraler Klang sein, ein einziger Klang, trotz seines inneren Reichtums. Diese Kohärenz des Klanges deutet in der Regel auch auf eine Harmonie des Typus dieses Namens hin. Ein solcher Name entfaltet eine gewisse innere Einheit, und das entfaltete Bild hängt verhältnismäßig wenig von äußeren Bedingungen ab. Selbst, wenn er sich dumm verhält und sein Lebensweg ständig irgendwelchen Launen unterliegt, scheint der Träger eines solchen Namens auf seine Weise ganzheitlich zu sein. In seiner Skurrilität ist er eindeutig einem Gesetz seiner Persönlichkeit unterworfen. Der Name Alexander, oder besser noch, in seiner griechischen Form Άλέξανδρος, zieht, wie viele andere, im mentalen Raum einen sanften, engen und stets fortschreitenden Bogen.
Im Gegensatz dazu gibt es Namen, bei denen der Klang im Zickzack geht. Beweglich und sogar etwas krampfhaft in seiner Bewegung, fehlt es ihm an Kohärenz und Geschmeidigkeit; die Organe selbst, die dazu dienen, ihn hervorzubringen, handeln zufällig, oder genauer gesagt, die Ordnung ihres Einsatzes besteht darin, dass jedes Mal der Abstand zwischen ihnen fast der größtmögliche ist. Dieser Klang beschreibt keine Parabel wie ein Diskos, der mit starker Hand geworfen wird, sondern zeichnet eher einen unterbrochenen Weg nach, um anschließend wieder am gleichen Ort zu landen, hin- und hergeworfen wie ein Ball beim Tennis. Es ist weniger ein Klang, als vielmehr Klänge, unruhige Klänge und überdies die stille Klarheit fortnehmend, weil jeder für sich stark ist und nicht als egal übergangen werden kann.
Genau so ist von der klanglichen Seite her der Name Nikolaus/Nikolai, oder noch deutlicher in seiner griechischen Form Νικόλαος. Er scheint von Zentrifugalkräften zerstreut zu werden, jeder seiner Töne will sich unabhängig von den anderen bewegen und wendet sich plötzlich zum nächsten, buchstäblich nicht um des ganzen Namens willen, sondern wie gegen ein äußeres Hindernis stoßend.
So verhält es sich auch mit dem Charakter des Nikolaus: Er besteht aus einzelnen geradlinigen Kraftvektoren, die nicht durch die inneren Kräfte der Persönlichkeit miteinander in Beziehung zu stehen scheinen, sondern lediglich in ihrer unbestimmten Geradlinigkeit durch die Umstände der Außenwelt begrenzt sind, gegen die sich ihr Ansturm jedes Mal richtet. Nikolaus‘ spiritueller Raum ist nicht deshalb begrenzt, weil sich die Struktur seiner Persönlichkeit äußerlich so ausdrücken würde, sondern weil die Struktur der äußeren Umgebung eben so ist und seine Tätigkeit aufnimmt.
Für Nikolaus ist nach außen gerichtetes Handeln charakteristisch. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ähnele es der weiblichen Grenzenlosigkeit, Endlosigkeit und Chaos, das danach strebt, sich auszubreiten, bis es auf Hindernisse stößt. Aber diese Ähnlichkeit ist nur scheinbar: jene weibliche Macht ist gegenstandslos und undifferenziert, und ihrem Hindernis begegnet sie passiv, als etwas Unerwartetem und Zufälligen. Im Gegenteil, Nikolaus richtet sich durch seine Handlung bewusst auf ein bestimmtes Objekt aus, das er sich selbst aussucht. Er sieht es voraus und will es, und ohne es gäbe es auch die Bewegung selbst nicht. Die weibliche Macht will sich ausbreiten und wirkt, unerwartet für sie selbst, auf etwas Äußeres; Nikolaus hingegen will bewusst und aus Pflichtgefühl auf ein bestimmtes Objekt einwirken, und er strebt danach, weil er es beschlossen hat. Aus diesem Grund ist die weibliche Ausbreitung nie geradlinig und fließt so weit wie möglich um die Hindernisse herum, denen sie begegnet; Nikolaus dagegen geht, oder genauer gesagt, eilt in seiner Tätigkeit geradeaus und wird niemals fähig und willens sein, ein Hindernis zu umgehen, sondern wird es entweder mit seinem Ansturm wegfegen oder es als unbesiegbar erkennen und in der entgegengesetzten Richtung wieder geradewegs, zu einem neuen Einflussobjekt zurückprallen. In sich selbst findet Nikolaus keinen Raum oder das Subjekt der Selbstoffenbarung. Er ist zu rational, um auf die unterirdische Brandung in sich selbst zu hören, und zu prinzipientreu, um sich eine solche, wie er meint, Untätigkeit zu erlauben. Sein Leben ist Tätigsein. Diese Tätigkeit ist unaufhörlich, denn Nikolaus gönnt sich weder Ruhe noch Zeit, da er dies so für seine Pflicht hält. Aber die Pflicht selbst wird von ihm intellektuell und äußerlich verstanden, und der Begriff derselben entspringt nicht aus der Tiefe, wo diese Welt mit der anderen Welt in Berührung kommt, sondern auf der Oberfläche des Moralismus. Nikolaus zweifelt selten daran, was gut und was böse ist. Die Antinomien des Innenlebens liegen ihm fern, so wie es für ihn überhaupt nicht interessant ist, sich in Bereiche zu vertiefen, in denen es schwierig ist, klare und pragmatische Lösungen zu geben oder solche jedenfalls schwerlich zu erwarten sind. Sein Denken selbst ist ohne Untertöne und Feinheiten, schematisch, klar, mit eindeutigen Verhaltensregeln, an denen er überhaupt nicht zweifelt und an denen er festhält. Ohne Zweifel und Zögern weiß Nikolaus immer genau, was erlaubt ist und was nicht, was sein soll und was verboten ist; In seinem Bewusstsein hat er ein für alle Mal das Ehrliche vom Unehrlichen unterschieden (diese Einteilung mag nicht immer ganz mit der gängigen übereinstimmen) und hält daran fest, bereit zu irgendwelchen Opfern, wenn es nötig wird, seine Pflicht zu verletzen. Dies ist ein Charakter, bei der es keine fließenden und elastischen Linien gibt, sondern alles aus geraden Stücken besteht. Beim Heiligen sind sie symbolisch und ontologisch, beim gewöhnlichen Menschen hölzern und gefühlsarm.
Nikolaus betrachtet sich selbst als das Zentrum des Geschehens und spürt verhältnismäßig wenig von anderen Kräften über und unter sich. Er überschätzt seine Bedeutung in der Welt, und es scheint ihm, dass alles um ihn herum nicht von selbst geschieht, sondern sich organisch entfaltet und von Kräften geleitet wird, die nichts mit der Verwirklichung menschlicher Pläne zu tun haben, sondern notwendigerweise durch einen rationalen Willen geschehen müssen. Er neigt dazu, sich selbst als einen solchen zu betrachten, als eine Art kleiner Vorsehung, deren Pflicht und Bestimmung es ist, für das vernünftige Wohl all derer zu sorgen, die tatsächlich oder nach seiner übertriebenen Einschätzung zur Reihe derer gehören, die unter seiner Obhut stehen. Und da Nikolaus für sich unzählige wirkliche und eingebildete Sorgen angehäuft hat, leidet er unter ihrer Last und fürchtet sich zugleich quälend, die Zügel aus seinen Händen zu geben, denn er traut weder den Kräften des Lebens noch dem Alter eines anderen oder generell der Fähigkeit anderer, ihren eigenen Lebensweg zu gehen.
Das ist kein Dünkel, denn für den Eigendünkel muss man sich mit jemandem vergleichen, der einem ähnlich ist. Nikolaus hat einen Blick auf die Menschen um ihn herum, wie ein Lehrer auf seine Schüler, eine Gouvernante auf ihre Zöglinge oder besser ein Gerichtsvollzieher, ein guter, ehrlicher Gerichtsvollzieher einer kleinen Stadt auf deren alle Einwohner. Das ist ein ständiges Bewusstsein der Verantwortung für alles Wohlergehen und die Ordnung, auch dort, wo niemand diese Verantwortung auf Nikolaus legt. Gleichzeitig werden Ordnung und Wohlbefinden sehr vereinfacht gedacht. In einem solchen Gemütszustand kann Nikolaus natürlich nicht anders, als sich selbst zu lieben. Er ist so sehr mit seinem Zentrum verbunden und so tief von der Güte seiner Sorgen überzeugt, dass ihm die Kritik selbst einzelner Umstände seines Wirkens oder seines Primats als ein Angriff auf die Wahrheit erscheint, als deren Träger er sich selbst betrachtet und mit der er sich fast identifiziert. Seine unermüdliche Tätigkeit, in den meisten Fällen ohne materiellen Gewinn, ist zu einem großen Teil von der Eigenliebe getrieben, als dem Bedürfnis, sich selbst und anderen seine Meinung über sich selbst und die Position, die er einnimmt, zu beweisen und zu rechtfertigen. Dann aber, wenn er gegen die Zweifel in sich ankämpft, kann Nikolaus in seiner Geradlinigkeit hart und grausam sein, indem er glaubt oder versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass er für die Wahrheit kämpft, ohne die die Menschen um ihn herum großen Schaden erleiden würden; tatsächlich liegt hierin jedoch ein Moment der Eigenliebe, der von ihm nicht klar gesehen wird.
Nikolaus möchte ein Wohltäter sein, und er sieht es als seine Pflicht an, dies zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass dies das Einzige ist, was seine Einstellung zu Menschen bestimmt. Vielmehr erwächst umgekehrt in ihm der Gedanke an Wohltätigkeit als Nebenprodukt seiner wirklichen Güte.
Nikolaus ist von ganzem Temperament aus gütig und kann nicht anders, und sei es nur, weil es unmöglich ist, mit einem ständigen Verantwortungsgefühl für andere zu leben und dieses Gefühl nicht durch eine freundliche Haltung gegenüber den Menschen aufzuhellen, die ihm anvertraut sind. Diese Güte hat jedoch einen ganz bestimmten geistlichen Ton. Sie gleicht in keiner Weise dem brennenden Mitleid mit allen Lebewesen, das zuweilen im Herzen schmerzt, aber untätig ist und nicht dazu bewegt, Unterstützung zu geben. Darüber hinaus richtet sich derlei Mitleid gegen das Grundleiden aller Lebewesen und gegen die Katastrophen, die nicht aus dem Leben beseitigt werden können, für die es kein Heilmittel gibt und bei denen der bloße Gedanke an ihre Unüberwindlichkeit jeden Impuls stoppt. Auf der anderen Seite ist die Güte des Nikolaus auch kein moralischer Impressionismus, bei dem die Hilfe auf sehr eigenartig wählerische Weise gewährt wird, die auf den ersten Blick sogar skurril ist, wenn etwa eine schwer zu erklärende, aber unausweichliche Intuition einen zwingt, jemandem und nur diesem zu helfen, obwohl es Tausende von Menschen gibt, die Hilfe brauchen, und selbst diesem nicht in allem zu helfen, nicht in verschiedenen offensichtlichen Bedürfnissen des Lebens, sondern in irgendeinem Aspekt seines Lebens, der wie ein Luxus oder eine Laune erscheinen mag, jedenfalls nicht wie ein Gegenstand der ersten Notwendigkeit. Für Nikolaus sind all dies fremde Gefühle; in seiner Hilfsbereitschaft orientiert er sich an den nahen und aus alltäglicher Sicht durchaus unbestreitbaren Konzepten menschlicher Bedürfnisse. Die elementaren Bedürfnisse des menschlichen Lebens und ihre unmittelbaren Folgen, die einfachsten, aber universellsten menschlichen Beziehungen betreffen Nikolaus. Mit einem scharfen und geübten Blick, der an diese Art von Aufmerksamkeit gewöhnt ist, wird Nikolaus den Aufbau des Lebens in seinen Fundamenten betrachten, die Menschen, mit denen er in Kontakt gekommen ist, schnell nach Was und Wie bewerten und die Entscheidung treffen, bei diesem und jenem zu helfen. Auf eher zweitrangige, nur unmittelbare (wie man gewöhnlich meint) <Hilfe>Bedürfnisse, seelische Widersprüche und Verstrickungen, jegliche individuelle Spitzen des inneren Lebens wird Nikolaus nicht nur keine Rücksicht nehmen und sie von seiner Fürsorge ausschließen, sondern sogar männlich- nüchtern als Tändelei, Exotik und müßige Träume verdammen.
Er nähert sich Menschen allzu offiziell, um die Schärfe und Vielschichtigkeit eines einzelnen Schicksals zu berücksichtigen, das allein alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen könnte. Seine Beziehung zum Menschen steht immer vor dem allgemeinen Hintergrund einer Vielzahl von Menschen, und dann ist es natürlich, alle Menschen als eine Oberfläche betrachten zu müssen, obwohl die Gesellschaft in Wirklichkeit mit einer gotischen Kathedrale verglichen werden sollte, in der es überhaupt keine ebenen Flächen gibt, sondern alles vertikal angeordnet ist und aus einzelnen Türmen und Punkten besteht, die in den Himmel ragen. Aber der Offizielle hat weder die Zeit noch die Lust zu erfahren, dass jeder Mensch ein Brunnen ist; er begnügt sich damit, auf den Deckel dieses Brunnens zu schauen, und hält es für einen unerreichbaren Luxus bei anderen, wenn sie noch etwas anderes als diesen Deckel haben, und bei sich selbst, an etwas zu denken, das über deren allgemeine Ebene hinausgeht. Nikolaus versteht sich selbst als Krankenwagen und bestreitet korrekt die Angemessenheit von Kunst und Philosophie darin. Aber er betrachtet die ganze Welt zu Unrecht nur als eine Ansammlung solcher Wagen, und gegen alles andere ist seine Haltung ein Stückweit herablassend.
Das bedeutet nicht, dass Nikolaus selbst nicht engagiert ist und nicht in der Lage ist, sich an den höheren Aktivitäten der Kultur zu beteiligen. Im Gegenteil, wenn er einen klaren Verstand, die Kraft des inneren Ansturms und der Wahrhaftigkeit besitzt, kann er in den Wissenschaften und Künsten Erfolg haben und hat ihn auch. Aber das, was er erreicht hat, ist bei allem Wert, zuweilen auch Kraft und sogar Tiefe gewöhnlich etwas defragmentiert, weil es aus einzelnen, unbestreitbaren Errungenschaften besteht, die jedoch nicht durch halbbewiesene und fast unbewiesene glückliche Vermutungen, Vorahnungen und Erregungen des Denkens zu einem Ganzen verbunden sind. Nikolaus‘ Errungenschaften, so bedeutend sie auch sein mögen, sind frei von Wohlgeruch. Irrlichterndes wird es hier nicht geben: Nikolaus sagt genau das, was er sagt, nicht mehr und nicht weniger. Aus einer Art Empfindlichkeit heraus antwortet er der Welt immer mit Cordelias Antwort: „ich lieb, wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder“, aber er tut es nicht aus schüchternem Stolz, sondern aus der gewohnten Geradlinigkeit seines Denkens. Nicht nur das symbolische Denken ist ihm nicht eigen, sondern auch der Begriff des Symbols selbst; die Grenze seiner Begierden auf dem Gebiet des Denkens ist die französische Klarheit. Ein Beispiel, das er in allem nachahmen möchte, ist die mathematische Algorithmik, deren schöpferisches und symbolisches Wesen er nicht versteht und in der er etwas äußerst Klares und für immer Unerschütterliches sehen möchte.
Ganz gleich, wie stark dieser Intellekt [Nous] (des Nikolaus) in diesem oder jenem Fall ist, die prophetischen Stimmen der Natur erklingen nicht in ihm, es gibt überhaupt kein singendes Prinzip in ihm. Nikolaus ist eine übertrieben männliche Natur, mit einseitig entwickelten Qualitäten des männlichen Geistes, und schließt daher das weibliche Eindringen in das Sein, abgesehen von der logischen Tätigkeit des Geistes, aus. Für Nikolaus ordnet der Verstand nicht, was auf andere Weise erlangt wurde, sondern muss selbst zur Wahrheit kommen: Das ist ein Versuch des einseitig männlichen Prinzips, sich selbst zu gebären. Wo das weibliche Prinzip durch das Leben selbst gegeben ist, und zwar im Überfluss, besonders im Chaos der Gesellschaft, kann diese Einseitigkeit des Nikolaus nützlich und erreichbar sein, denn er bringt das Reiche, aber Ungeordnete in Ordnung. Aber in anderen Fällen, auf eher theoretischen Gebieten, wenn Nikolaus keine Nahrung mehr von außen erhält und notwendigerweise mehr in sich selbst zurückgezogen ist, läuft er Gefahr, Probleme aus dem Nichts zu erfinden und sich mit zielloser und ungerechtfertigter Arbeit zu quälen. Unfruchtbarkeit mit großem Aufwand ist häufiger das Los von Nikolaus.
Dieser Intellekt neigt nicht zur Kontemplation. Er mag sich in gewissen Fällen hoch erheben, aber er bleibt stets seiner selbst bewusst und verfällt deshalb nicht in intellektuelle Ekstase. Er schwebt nicht. Man kann ihn nicht als eigennützig bezeichnen; er hat jedoch einige Elemente des Berechnenden und Nützlichkeitsdenkens. Nikolaus sieht auch in seiner theoretischen Tätigkeit etwas Administratives, die Herstellung einer Art von Ordnung. So abstrakt diese auch sein mag, ist sie doch nicht selbstvergessen, sondern ist (oder erscheint ihm) auch eine Art Krankenwagen, der jemandem oder etwas hilft oder rettet. Selbst die abstrakteste Frage der Mathematik stellt sich für Nikolaus, so er sich ihr angenommen hat, als Sache äußerster Notwendigkeit dar, so dass mancher, falls diese Aufgabe ungelöst bleibt, sich das Bein bricht oder ohne Essen bleibt, um es bildhaft zu sagen. Vielleicht irrt sich Nikolaus auch hier, wie er sich allgemein irren kann, weil er sich hauptsächlich auf die Berechnungen der Vernunft verlässt; er selbst bewertet diese seine Beschäftigung jedoch als absolut notwendig. Niemand sonst außer Nikolaus ist so allzu prinzipientreu, dass er sich anstelle in Kontemplation erginge, die der Sache zuwiderläuft, und sich das zu erlauben, was er selbst als Luxus und die Schönheit des Lebens bewertet.
Unter allen Namen schätzt vielleicht dieser im Menschen am meisten seine Menschenwürde, hält sie in sich fest, fürchtet, sie aus seinen Händen gleiten zu lassen, und fordert sie von den anderen. Es liegt eine gewisse Erschütterung und Unruhe in dieser Haltung, als ob die Würde des Menschen so leicht von selbst entglitte. Und wirklich stellt Nikolaus sich diese gar als etwas Künstliches vor, das nicht in der Lage ist, stark zu sein und durch organische Kräfte erhalten zu werden. Die natürliche Welt auf der einen Seite und die mystische Welt auf der anderen Seite scheinen ihm gleich weit von der Vernunft entfernt zu sein und die Vernunft ausschließend, während die Menschlichkeit für ihn mit der Vernunft identisch ist. Und deshalb macht ihm jedes Herabsteigen aus dieser Grenzebene der beiden Welten Angst, als sei es ein Herausfallen aus der Menschlichkeit. Der nicht-kosmische und nicht-mystische Nikolaus sieht die ontologischen Wurzeln der Vernunft selbst nicht und will sie nicht sehen, und damit auch nicht die Rationalität dessen, was jenseits der engen Grenzen des menschlichen Bewusstseins liegt. Seine eigene Sphäre ist die menschliche Kultur, die jedoch nicht als die höchste Ebene der schöpferischen Natur und nicht als die Grundlage des himmlischen Lebens verstanden wird, sondern allem Sein entgegengesetzt ist. Nikolaus ist ein typischer Stadtbewohner und Bürger. Er traut dem Sein nicht, weil er den Logos, der ihn leitet, nicht spürt, und in seiner Seele ist er sich kaum bewusst, dass „alles durch Ihn geworden ist, und ohne Ihn wurde auch nicht eines, was geworden ist“. Zu weit vom Sein entfernt für ein Interesse daran, das zitierte Evangelienwort zu verleugnen, beachtet Nikolaus es einfach nicht und glaubt nur an jene göttlichen Kräfte, die sich in der bewussten Tätigkeit des menschlichen Geistes offenbaren.
Wo der Mensch dem Sein und seinen organisch rationalen Kräften vertraut, da herrscht Ruhe und gewichtige Langsamkeit: Die Ereignisse reifen bei solcher Einschätzung von selbst heran, und Eile hilft nichts. Dann gibt es keinen Grund, hektisch um die Ereignisse zu kreisen, denn, wie man sagt: „Niemand vermag, indem er sich Sorgen macht, seiner Lebensdauer eine kleine Zeitspanne hinzuzufügen.“ Als Kehrseite dieses Vertrauens in das Sein können sich Untätigkeit, Lethargie, Faulheit und Fatalismus entwickeln. Nikolaus vertraut, wie gesagt, nur der Vernunft, nicht nur seiner eigenen, sondern auch der Gottes, da er der Kultur zugewandt ist. Nikolaus vertraut nur auf bewusste Anstrengung. Dies führt zwangsläufig zu der Heißblütigkeit, die diesen Namen sehr charakterisiert. Mit seinem ganzen Temperament bewahrt er sich diese Eigenschaft, auch weil er überzeugt von ihrem Wert ist. Langsamkeit ist ihm sowohl fremd als auch abstoßend. Fremd sind ihm sorgfältig durchdachte Lebenszügen, die auf einen günstigen Moment warten; es ist ihm nicht allein langweilig, die Knoten des Lebens zu lösen, sondern auch zuwider, als etwas, in dem er entweder Intrigen, Politik oder List vermutet. Währenddessen ist Nikolaus geradlinig und bewusst ehrlich, absichtlich direkt, wünscht glühende Ehrlichkeit und ehrlichen Eifer zu besitzen. Hier stilisiert er seine Neigungen in sich selbst und neigt dazu, programmatisch ehrlich, programmatisch direkt und programmatisch heißblütig zu werden. Auch so schon geneigt zur Erregung, die Musik des Lebens nicht wahrnehmend, wirft er weiter Holzscheite unter sich und entflammt sich, weil er glaubt, hier den Gipfel der menschlichen Würde erreicht zu haben.