3-3-01 Philosophische Terminologie
2. März 1919, nachts. Sergiev Posad
Der Noumenale
Als ich Vater Diomid, rechte Hand des Sakristans der Lavra, meinen Artikel über die Lavra vorgelesen und mit ihm besprochen habe, stießen wir auf das Wort der Noumenale, und ich spürte den Wunsch nach einer Erklärung dafür. Auf dem Heimweg legte ich mir dann folgende Erklärung zurecht: Noumen kommt von dem Wort νοῦς [Nous]. Wir übersetzen νοῦς gewöhnlich mit Verstand/Vernunft [russ.: um]. Allerdings gibt das russische um weder νοῦς noch das ihm ebenbürtige kirchenslawische um“ korrekt wieder. Νοῦς bedeutet eigentlich: geistlicher Mittelpunkt unseres Wesens, Mittelpunkt, Zentrum, Urknoten des geistlichen Lebens; νους ist das geistliche Ich, der Geist – in Gegensatz zu äußerlichen, zufälligen, zusammenhangslosen Sinneseindrücken. Daher bedeutet νοούμενον [Noumenon] das, was geistlich ist, was geistlich erfassbar ist, geistlich erfasst werden kann, nur dem Geist zugänglich ist, nicht aber dem Sinneseindruck, den Sinnen. „Der Noumenale“ bedeutet also der im Geist Wissbare, d. h. geistlich erkennbar und geistlich seiend, sinnlich aber nicht erkennbar und nicht seiend.
Verherrliche es [das Antimension[1]] vornehmlich nach dem Gesetz der Sühneplatte[2]: auf dass die über ihm vollzogenen Sakramente auf den heiligen, himmlischen und geistlichen Altar übergehen und uns die Gnade Deiner allreinen Segnung überbringen.
(Ordnung der Weihe der Antimensia – Pontifikale S. 139[3])
Auf der ganzen Erde hast Du, Herr der Mächte, Deine heiligen Kirchen und Altäre aufgestellt, damit Dir die geistlichen und unblutigen Opfer dargebracht werden.
(ebenda S. 138)
Das zweite Gebet vor der heiligen Kommunion des Chrysostomus:
…von einem geistlichen Wolf geraubt werde …
[4]
Geist (Nous)[5]
Kanon An den Schutzengel, Ode 7, Vers 4:
lieblicher und anmutiger, sonnengestaltiger Geist [6]
Der Verstand kann lieblich, anmutig und „sonnengestaltig“ sein. NB!!!
Geistig (noetisch)[7]
Kanon An den Schutzengel, Ode 6, Gottesmutter-Vers auf „jetzt, und immerdar…“:
[Gottesgebärerin,] geistige Stufenleiter [8]
Akathistos an unseren gütigsten Herrn Jesus Christus, Ikos 9:
Erleuchte die Gedanken meines Herzens. [9]
Vgl.
Er zerstreute die durch die Gedanken ihrer Herzen Stolzen.
Ode an die Gottesgebärerin, „Die Du ehrwürdiger bist…“ [10]
Vgl.
… denn aus dem Herzen kommen (gute und) böse Gedanken.
[11]
Also ist der Gedanke ein Herzensgut, Tätigkeit des Herzens; Herz = νοῦς.
Zu erklärende Begriffe[12]
- ἅγιασμα
- δύναμις
- ἐνέργεια
- ἐπιφοίτησις
- χάρις in späterer Zeit
- καταφοιτάω (έω?)
- εὐλογηθήναι
- ἐξουσία
- πάρειμι
- μορφή
- μεταβάλλω – wandeln (über die Heiligen Gaben)
- sacramentum[13] (siehe bei S. P. Znamenskij[14])
- εὐλογία – Segnung, segnen
- Gab es (insbesondere) diese Begriffe: νοητός, νοερός usw. a) vor Platon, b) außerhalb des Platonismus, nach Platon?
[1] Altartuch, auf dem die konsekrierten Gaben während der sakramentalen Handlungen des Priesters abgestellt werden. Die Liturgie kann in der Ostkirche ohne ein solches vom Bischof geweihtes und mit eingenähten Martyrerreliquien versehenes Tuch nicht vollzogen werden.
[2] Bezeichnung der Deckplatte auf der Bundeslade, vergl. Ex 25,17-22
[3] Pontifikale [Činovnik archierejskogo služenija] der orthodoxen Kirche, Moskau 1854, S. 139
[4] PGB S. 265 (dt. S. 171: „…voll Zuversicht und Vertrauen auf Deine unaussprechliche Gnade komme ich zu Dir, mein Christus und mein Gott, damit ich nicht, auf lange Zeit fern von Deiner Gemeinschaft, dem listigen Wolf zum Raube werde.“) (Online)
[5] russ.: um (griech. νοῦς), wird auch als Verstand, Vernunft bzw. Intellekt übersetzt
[6] Ebenda, S. 174 (dt. S. 147) (Online)
[7] russ.: umnyj
[9] Ebenda, S. 140 (dt. S. 102)
[10] Lk 1,51, nach der kirchenslawischen Fassung; nach der EÜ: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind.“ Im orthodoxen Gottesdienst ist „Die Du ehrwürdiger bist als die Cherubim…“ der Kehrvers.
[11] vergl. Mt 15,19
[12] (griech.) 1) Heiligung, Heiligsprechung, 2) Macht, Kraft, 3) Energie, Wirken, 4) Ausgießung, Eingebung, 5) Gnade, Dankbarkeit, 6) Herabkommen, Herabsteigen (bis), 7) geheiligt, gesegnet sein, 8) Vollmacht, 9) nah, anwesend sein, 10) Form, 14) denkbar, mit dem Verstand erfassbar; geistig
[13] (lat.) Geheimnis
[14] Gemeint ist: Znamenskij, Sergej Pavlovič: Aus dem Leben der Worte (Die semasiologischen Schicksale des Begriffs sacramentum) [Iz žizni slov (Semasiologičeskie sud’by termina sacramentum)], in: Bogoslovskij Vestnik Nr. 2/1909, S. 298 – 311, Nr. 4/1909 S. 540 – 573 (DjVu PDF Teil 1 PDF Teil 2 ru)